Montag, 30. November 2009

Die Interpretation der Welt als Geschichte: die revolutionäre Arbeitsmethode des Historismus

Die Moderne, die sich im 19.Jahrhundert entfaltet, war für die Menschen dieses Zeitalters ein spannendes Ereignis. Golo Mann schreibt dazu:

"Daß man in einer ungewöhnlichen Zeit lebte, hatte man schon im späten 18.Jahrhundert geglaubt; aber damals hatte es sich um den einmaligen Schritt gehandelt, von einer mittelalterlich-unvernünftigen in die vernünftig geordnete Welt. Jetzt war immer Krise; jetzt hatte jede Zeit ihr eigenes Gesetz, um dessen Erfüllung sie rang.." (1)

Im 19.Jahrhundert blühten die Wissenschaften auf. Die alten Auffassungen brachen zusammen. Geologie, Paläontologie und andere wissenschaftliche Disziplinen schufen ein historisches Gerüst der Weltentwicklung, der Entwicklung des Lebens und der Menschheit. Immer weitere Fragen wurden aufgeworfen, wie sich alles entwickelt hat. Die Welt wurde immerzu neu geschichtlich interpretiert und der Historismus entstand als neue Methode, mit dem Vergangenen umzugehen.

Um das Neue entwickeln zu können, griff man auf die Vergangenheit zurück. Man wollte die Entwicklungsstränge verstehen, um an ihnen in die Zukunft hinein weiterbauen zu können. Das warf zugleich das Problem auf, wie mit den vielen Vergangenheiten umzugehen ist, die aufgeworfen werden konnten. Wertsysteme waren zu entwerfen, auf die hin Vergangenheit auszuwerten war. Der Sinn und Zweck jeglichen Tuns und Handelns geriet auf den Prüfstand. Man wollte die Bedingungen und Antriebe verstehen, welche zur Entfaltung der Geschichte geführt hatten. Und man wollte aus der Geschichte heraus die neuen Ziele des Handelns begründen.

Voraussetzung für den Historismus war die Entdeckung der Individualität, "der unwiederholbaren Einzigkeit und Einzigartigkeit des Besonderen", wie Thomas Nipperdey es ausformuliert. Diese Individualität könne man nur erkennen, wenn man ihre Entwicklung begreife und wenn man versuche, sie aus ihren eigenen Voraussetzungen und nicht aus den überzeitlich verstandenen Voraussetzung der eigenen Gegenwart zu verstehen. (2)

Humanität ist dann nicht mehr Entfaltung der allgemein menschlichen Eigenschaften, sondern die Entfaltung seiner individuellen Anlagen. Historische Erscheinungen werden so zum Ausdruck vieler schaffender Geister. Der Sinn, der diesem geistigen Schaffen zugrunde liegt, ist endlich zu erschließen. Eine solche Arbeitsmethodik zu entwickeln, die den Sinn erschließen kann, der dem geistigen Schaffen der gestaltenden Individuen zugrunde lag und liegt, war das Thema der Moderne des 19.Jahrhunderts. Man wollte die historischen Vorgänge endlich begreifen, sie kritisch durchdringen, sie als Verflechtungen nebeneinanderstehender Ursachen verstehen, den Verursachungsprozeß dezidierter ergründen. Es ging darum, diese Unendlichkeit der Ursachen, die zugleich als Repräsentanten der inneren Freiheit des Menschen deutlicher entdeckt wurden, zu verstehen. Die Geisteswissenschaften explodierten. Und mit ihr explodierte die Quellenkritik. Es wurde üblich, deutlicher zu hinterfragen, was die Zeugnisse der Vergangenheit eigentlich aussagen. Es entstand "eine neue Überzeugung von der Unableitbarkeit und dem Eigenrecht des Individuellen", die das Geschehen, das zu den kulturellen Äußerungen der Menschheit geführt hatte, anders und kritischer betrachten ließ. Die Bewegungskräfte der Geschichte kennenlernen zu wollen, schuf eine aufregende Spannung, die man als das typische Kennzeichen des 19.Jahrhunderts ansehen kann.

Es darf daher nicht verwundern, wenn in der historistischen Architektur immerzu Zitate von Architekturen vergangener Zeiten auftauchen und als bedeutungsvolle Verweise auf die komplizierten Entwicklungsstränge der Baugeschichte in der Architektur der Gegenwart des 19.Jahrhunderts plötzlich eine so große Rolle spielen. Die Fortschrittsgeschichte der Menschheit, die sich so in der historistischen Architektur widerspiegelt, hat auf diese Weise ihren ganz eigenartig schönen Ausdruck gefunden. Es entstand damals das Bild einer organisch gewachsenen Kultur, und ihren Wurzeln war man auf der Spur, alles das fand sich wieder als Abbild in der Architektur. Es ist grober Unfug, eine solche Baukunst so abzuwerten, wie man es im 20.Jahrhundert gerne tat. Im Gegenteil: man sollte sich die Baukunst des Historismus sinnvoll erschließen und ihren Wert herausarbeiten. In ihr liegt viel Schönheit.

Karl-Ludwig Diehl

Anmerkungen:
(1) zitiert aus: Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts. Frankfurt, 1989 (1958). S.110f.
(2) siehe: Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München, 1991. S.500

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