Montag, 30. November 2009

Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: ein Gebäude für die Seidenzucht in der Nähe von Paris


Der Architekt Destailleurs hatte in Villemonble, in der Nähe von Paris, für einen Herrn Grimaudet ein Gebäude für die Seidenzucht entworfen. Um dies tun zu können, nutzte er die Kenntnisse des H.d'Arcet, der ein Mitglied der französischen Wissenschaften in Paris war. Dieser hatte in Südfrankreich auf einer Forschungsreise sogenannte "Seidenbauhäuser" aufgesucht, um sich ein grundlegendes Fachwissen von der Seidenraupenzucht und den dafür notwendigen Gebäuden zu schaffen. Seidenraupen brauchen bestimmte Überlebensbedingungen. Sie müssen "den zu ihrer Zucht nöthigen Luftzug, so wie auch den passenden Grad von Wärme und Feuchtigkeit" antreffen. (1)

Offensichtlich war die Biedermeierzeit ein kulturgeschichtlicher Abschnitt, in dem in Europa die Seidenraupenzucht eine besondere Stellung einnahm, denn es heißt im Text aus dem Jahre 1836:

"Bei der großen Ausdehnung, deren sich der Seidenbau gegenwärtig beinahe durch ganz Europa erfreut, und der wichtigen Stellung, die dieser Artikel im jetzigen Handel einnimmt, dürfte die Beschreibung eines zweckmäßig angelegten Seidenbauhauses von nicht geringem Interesse sein." (2)

Es fragt sich also, wie zu dieser Zeit ein zweckmäßig angelegtes Seidenbauhaus aussehen sollte. Wir können zur Beantwortung dieser Frage das von Destailleurs geplante und für Grimaudet gebaute Bauwerk auswerten, da uns Grundrisse, Schnitte und weitere Hinweise zur Verfügung stehen. Was fehlt, sind Ansichten des Gebäudes, die uns etwas über den Baustil des Gebäudes aussagen könnten.

Zu den Abbildungen auf dem Blatt XCV ist gesagt:
"ist Fig. 1 der Grundriß des Erdgeschosses.
Fig. 2 der Grundriß des ersten Stockes
Fig. 3 Durchschnitt nach GH.
Fig. 4 Durchschnitt nach EF.
Fig. 5 Durchschnitt nach CD.
Fig. 6 Durchschnitt nach AB." (3)

Das Außenmauerwerk bildet ein langgestrecktes Rechteck. An die Mitte der Längsseite des Gebäudes wurde ein Treppenhaus angebaut. Den großen Innenraum des Seidenbauhauses hat der Architekt durch zwei Innenwände im Erdgeschoß verkleinert. Im Erdgeschoß stehen Pfeiler, welche die Geschoßdecke zusammen mit dem Außenmauerwerk tragen müssen. Durch die Trennwand wurde "ein Gemach für kalte oder warme Luft" vom großen Raum abgeteilt. Es wurde von hier aus die gleichmäßige Wärmeverteilung im Gebäude abgesichert. Entweder wurde beheizte Luft zur Zirkulation gebracht, oder man nahm Eis, um in der zu warmen Jahreszeit die zu warme Luft abzukühlen, die verteilt wurde.

"In diesem Gemache /.../ befindet sich der Herd /.../ mit einem Rohre, welches in den Schornstein /.../ einmündet. Hier sind Vorrichtungen angebracht, um den Luftstrom reguliren, und ihm nach Bedürfniß einen höhern oder niedern Wärmegrad, so wie mehr oder mindere Feuchtigkeit mitzutheilen." (4)

Der große Raum im Erdgeschoß wurde zum Trocknen der Maulbeerblätter genutzt. Außerdem wurden hier die Kokons der Seidenraupen abgesponnen.

Das Obergeschoß ist ein sehr hoher Raum. In ihn mündet vom Raum im Erdgeschoß, in dem die genau regulierte Warmluft zur Zirkulation gebracht wird, hier und da "hölzerne Kanäle", aus denen die Luft herausströmt. Auf hohen Stellagen, zwischen die Arbeitsgänge eingebaut sind, liegen die Gitter der "Seidenbaustube", wie der hohe Saal im Text genannt wird. Auf den Gittern leben die Seidenraupen und werden mit Maulbeerblättern gefüttert.

"Das Ausbrüten der Eier, Füttern der Würmer u. geschieht in diesem, so wie in jedem andern Seidenbauhause auf längst bekannte Weise." (5)

D'Arcet verweist auf die Schriften von Dandolo und Bonafous, wo sich sehr genaue Erörterungen dazu finden liessen. Es ist anzunehmen, daß diese Schriften in der Biedermeierzeit in guten Bibliotheken vorhanden waren. Andererseits sind im ausgewerteten Text andere Angaben gegeben, welche auf die Raumnutzung verweisen:

"Im Anfange der Zucht kann bloß 1/4 der Seidenbaustube benützt werden; zu dem Ende wird /.../ eine mit Papier bezogene Leinwand nach der ganzen Breite des Gebäudes aufgestellt, zugleich werden anfänglich alle Oeffnungen der untern und obern Züge in dem so abgeschiedenen Raume verstopft. Brauchen dann die Seidenraupen bei dem Fortgange der Zucht mehr Platz, so rückt man mit der Leinwand weiter vor, auch öffnet man nach und nach so viele Zuglöcher, als für nothwendig erachtet wird. Auf diese Art hat man jederzeit den Luftstrom in seiner Gewalt, ohne an Brennmaterial oder an Eis mehr verbrauchen zu müssen, als es die gerade vorhandene Menge der Seidenwürmer erfordert." (6)

Man hat also, je nach Raumbedarf der Seidenraupen, die Seidenbaustube, also das hohe Obergeschoß mit seinen Stellagen, von einer verkleinerten Raumnutzung zu einer immer größeren Raumnutzung verändert. Dabei half eine Trennwand aus Leinwand, die mit Papier luftdicht verklebt war. Dadurch war nur der gerade für die Aufzucht der Seidenraupen zu nutzende Raum zu temperieren. Folglich ließ sich der Brennmaterialverbrauch optimieren, genauso die Verbrauchsmenge des Kühlmaterials, um der zirkulierenden Luft die immer gleichmäßig hohe Temperatur zu geben. Mit den damaligen Thermometern und Hygrometern wurde in engen Zeitabschnitten sehr regelmäßig die Raumtemperatur der "Seidenbaustube" kontrolliert. Man stieg auch in das Dachgeschoß, da dort oben an der Qualität der Luft gespürt werden konnte, ob die Bedingungen im Zuchtraum für die Seidenraupen optimal waren.

Die technischen Einrichtungen, die zur Herstellung des optimalen Luftstroms gebraucht wurden, waren sehr umfangreich. Man arbeitete mit "Schubern", "Windfächern", Regulierschnüren im Obergeschoß und mit Ableitungsschläuchen verdorbener Luft z.B. im Erdgeschoß, um die bei Trocknungsprozeß der Maulbeerblätter entstandene Abluft entfernen zu können.

Man müßte Zeit dafür einsetzen, um die Seidenbauhäuser, die in der Biedermeierzeit gebaut wurden, oder in Betrieb waren, in einen Vergleich zu bringen. Dazu müßte sehr viel Archivmaterial zusammengetragen werden. Die Literatur zum Thema wird bereits sehr umfangreich sein, die auszuwerten wäre.

Karl-Ludwig Diehl

Anmerkungen:
(1) siehe dazu: d'Arcet: Beschreibung eines Seidenbauhauses, so wie dasselbe für die Gesundheit der Seidenraupen zweckmäßig erachtet wird, indem man demselben stets den zu ihrer Zucht nöthigen Luftzug, so wie auch den passenden Grad von Wärme und Feuchtigkeit mittheilen kann. S.438-441 und Zeichnungen auf dem Blatt XCV in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1836. S.438 Die Redaktion der Allgemeinen Bauzeitung scheint diesen Text als Übersetzung in die deutsche Sprache abgedruckt zu haben, es finden sich jedoch im Text Hinweise darauf, daß die Redaktion eigene Textstellen eingebaut hat.
(2)-(4) zitiert aus: d'Arcet, wie vor, S.438
(5)-(6) zitiert aus: d'Arcet, wie vor, S.440

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