Montag, 30. November 2009

Kritischer Geist steckt fest und findet nicht zum Neuen: Wahrheit und Lüge in der deutschen Baukunst am Ende des 19.Jahrhunderts

Im Jahre 1888 entschloß sich die Allgemeine Bauzeitung, einen Beitrag des Bau-Kommissärs Gruner zu drucken, dem daran lag, "Wahrheit und Lüge in der Baukunst" erkennbar zu machen. (1) Er formuliert eingangs, wohl anstachelt durch die Lehre der Tektonik von Bötticher:

"die Pflicht eines jeden Architekten sollte es /.../ sein, die Bedeutung der Elemente und Formen, mit denen erarbeitet, beständig im Auge zu behalten und die Tektonik bei seinen Entwürfen und Entschliessungen die letzte Richterin sein zu lassen." (2)

Es sei einfach, ehrlich zu bauen, wenn es sich um reine Nutzbauten handelt. Das Aussehen sei Nebensache. Ein Heuspeicher, eine Wächterhütte oder eine Brücke für die Holzabfuhr würden in der Regel keine Kunstform erheischen, und man könne sie leicht so schlicht gestalten, wie es "ihr Zweck und die nackte Nothwendigkeit" erfordern.

Bei einem Grundriß, selbst bei einer handwerksmäßigen Leistung, sei das meist schon anders, da immer verschiedene Anordnungen der Räume gewählt werden könnten. Da könne es durchaus passieren, daß unwahre Verhältnisse zustande kommen. Er erwähnt Treppen in Dresden:

"So findet man z.B. in Dresden häufig Hausfluren mit nach beiden Seiten aufsteigenden, scheinbar gleichwerthigen kurzen Treppen, von denen jedoch nur eine bis zur Haupttreppe, die andere hingegen nur bis zur nächsten Wohnungsthüre führt. Diese Anordnung ist nicht nur künstlerisch falsch, weil der für alle Hausbewohner bestimmte Weg zur Treppe wichtiger ist und dementsprechend anders betont werden muss, als der nur zu einer einzelnen Wohnung führende, - sondern sie ist auch unzweckmässig, weil man beim Eintritt in's Haus schwankt und nicht weiss, ob man sich nach rechts oder links wenden muss." (3)

Das Beispiel ist sehr gut gewählt. Es dürfte nützlich sein, auf ähnlich seltsame Anordnungen gestoßen zu werden.

Ein Kind der Zeit dürfte jedoch diese kritische Anmerkung sein:

"Eine andere Wahrheit im Grundriß liegt vor, wenn die Scheidewände der oberen Geschosse mittelst Eisenträgern ganz anders angeordnet werden, als die der unteren; denn die Baukunst pflegt die Stabilität, und ihre schwerlastenden Schöpfungen sollen entweder auf der Mutter Erde sicher gegründet ruhen, oder in Form von Bögen, Gewölben und Kuppeln sofort befriedigende Auskunft über ihr Freitragen geben. Das Inderluftschweben nach Vogelmanier, wobei man nicht recht weiss, wie es eigentlich ermöglicht wird, ist uns mit dem Begriff einer Mauer unvereinbar." (4)

Der Mauerwerksbau erheischt Mauern, die von Geschoß zu Geschoß übereinander stehen, so der Gedanke. Sobald weite Eisenträger zum Einsatz beim Mauerwerksbau kommen, verändert das jedoch die gesamten Verhältnisse. Es besteht dann in Wahrheit kein Grund mehr, Mauer über Mauer zu stellen. Die Tragwerksstruktur ist jedoch ungewohnt und die neuen Möglichkeiten, die damit geschaffen werden können, um der Architektur eine andere Sprache zu geben, sind noch nicht gut durchdacht, wenn eine solche Kritik geübt wird. Das tektonisch ausgerichtete Denken der Zeit will Mauer über Mauer und empfindet das als wahr. Gruner kann auch Fassadengliederungen im Mauerwerksbau nicht ertragen, bei denen zum Mittel der "blinden Fenster" gegriffen wird, da sie nach ihm "als anklagende Zeugen eines Konfliktes zwischen Grundriß und Façade dastehen" und nach ihm nichts anderes sind als Lügen. (5) In der Tat existiert dieser Konflikt zwischen Grundriß und Fassade, er macht aber zugleich deutlich, daß der Baustil weiterentwickelt werden muß, sodaß dieser Konflikt aufgehoben ist. Gruner ergeht sich deshalb in dem Thema Baustil:

"Hier gilt es zuerst, sich wegen der Wahl des Styles schlüssig zu machen." (6)

Er meint, "ein wirklich echter Styl" könne eigentlich garnicht gewählt werden, sondern man habe sich bei dem Entwurf eines Bauwerkes mit der Art der Raumüberdeckung, dem Zweck, dem Material, dem Zeitgeist, der künstlerischen Befähigung auseinanderzusetzen, da sich dadurch das Bauwerk selbst ergebe. Wenn man die einzelnen Aspekte durchgehe, könne man sehen, wie die Lage derzeit sei. Er zeigt dann am Beispiel des neuen Baustoffes Eisen auf, das es ganz neue Verhältnisse schafft, jedoch sich dadurch bis dahin kein neuer Baustil ergeben habe:

"Soweit das Material in's Spiel, kommt, weist die Neuzeit wohl einen Faktor im Bauwesen auf, der geeignet wäre, den Anstoss zur Entwickelung eines neuen Styls zu geben: das Eisen in seinen verschiedenen Arten, wie: Guss-, Schmiede- und Walzeisen, und in seiner Verbindung mit kolossalen Glasflächen oder mit Füllmauern zu Dächern und Wänden. So viel aber auch schon in diesem Material gearbeitet worden ist, so grosse Bauwerke mit Hülfe desselben entstanden (es sei nur an die mächtigen Bahnhofshallen, die Ausstellungspaläste, die Brücken von riesenhafter Höhe und Spannweite erinnert): einen diesem Material eigenthümlichen Styl sahen wir bis jetzt noch kaum geboren werden und es hat auch kaum den Anschein, als ob dies dem lebenden Geschlechte beschieden sein würde." (7)

Offensichtlich, so sagt dieser Abschnitt, bringt ein neuer Baustoff mit neuen Eigenschaften zwar neue Möglichkeiten, aber bis daraus eine umwälzend neue Baukunst entsteht, vergeht Zeit. Bei den Eisenbahnwaggons blieben die Waggons für den Personentransport als Kutschengehäuse erhalten. Auch das Automobil erinnerte mit seinem Fahrgastgehäuse noch an Kutschen. Zur Architektur seiner Zeit sagt Gruner:

"Bei all den genannten Bauwerken wurden entweder vom Architekten die Stylformen des Steinbaues angewandt, oder der Ingenieur begnügte sich mit der aus Zweck und Konstruktion sich ergebenden nackten Nutzform und verzichtete geflissentlich auf jeden Versuch einer künstlerischen Durchbildung." (8)

Der Satz spricht von einem Gegensatz Architekt und Ingenieur. Der eine könne sich nicht von den Gesetzmäßigkeiten des Mauerwerksbaues lösen und verharre in Baustilen, die mit dem Mauerwerksbau aufgekommen waren, der andere besitze die Fähigkeit, mit dem neuen Baustoff Eisen umzugehen, gelange aber zu keiner künstlerischen Durchbildung, sondern zeige den Baustoff gewissermaßen im Rohzustand. Gruner selbst repräsentiert diesen Konflikt, wie sich oben bei dem Thema Scheidewände zeigte. Nach der Logik des Mauerwerksbaues müssen sie übereinanderstehen. Seine Sicht der gestalterischen Fähigkeit des Ingenieurs läßt andererseits tief blicken. Er spricht ihm die Fähigkeit ab, gerade durch seine Vorgehensweise im Umgang mit dem Material eine neue Art der Baukunst zu erzeugen. Gruner ist nicht in der Lage, in diesen Tragwerksbauten der Ingenieure eine neue Epoche der Baukunst zu sehen. Er sieht auch nicht, daß gerade in der "aus Zweck und Konstruktion sich ergebenden Nutzform" der eigentliche Keim einer neuen Baukunst liegen müsse, die bereits in der Entfaltung begriffen ist. Er führt danach eine Klage über die Unfähigkeit der Architekten, aus ihrer Zeit heraus zum neuen Baustil zu gelangen:

"Solche Erscheinungen, solche gänzliche Unfruchtbarkeit auf architektonischem Gebiete können den denkenden Architekten recht muthlos machen." (9)

Daß er selbst auf dem Gebiet der Architektur stecken blieb, reflektiert er nicht mit, sondern kritisiert diejenigen Architekten, die sich "mit einem allgemeinen Elan" "auf den Deutschrenaissance-Styl" warfen, wobei sie auf etwas zurückgegriffen hätten, was sich in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Krieg entfaltet hätte und durch ihn untergegangen sei. Man würde heutzutage, so schreibt er im Jahre 1888, die deutsche Renaissance zur Modesache gemacht haben. Die Architekten hätten sie jedoch "nicht kapirt, sondern gedankenlos kopirt". Außerdem hätte man im Sturmschritt "alle nachfolgenden Stylperioden durchlaufen", schon sei man beim Barock und Zopf angelangt. Sein Fazit: "und die Architektur hat wieder einmal abgewirthschaftet." (10)

Das Eigenartige ist jedoch, daß er nur die Vorgehensweise der modernen Deutschrenaissanceler kritisiert und nicht die Tatsache, daß sie einen solchen Baustil erneut aufleben lassen. Sie hätten sich zu wenig darum gekümmert, wie "stylgerecht" in Form der Deutschrenaissance zu bauen ist. Er verweist auf Absurditäten:

"wenn wir aber diesem Styl zuliebe hohe Giebel errichten und damit in der Façade steile Dächer andeuten, wo keine Bodenräume und nur ganz flache Dächer dahinter liegen, oder wenn wir Dockengeländer auf eine Façade stellen, zu denen kein Mensch gelangen kann, so sind das eben Lügen" (11)

Die Kritik erscheint berechtigt, andererseits wird nur darauf abgehoben, wahre Verhältnisse auch innerhalb eines Neo-Stiles zu zeigen. Daß der Baustil selbst eigentlich überlebt ist, wird damit nicht gesagt. Es geht ihm um die Logik des Mauerwerksbaues, die rein daher kommen soll. Und wenn ein relativ flaches Dach gewählt wurde, soll das nicht kaschiert werden. Er sieht, wie aus dem weiteren Werdegang der Ideenentwicklung in seinem Aufsatz deutlich wird, unter den Architekten zwei Fraktionen vor sich, die handeln. Die einen würden sich an Semper anlehnen, der um ein Tragwerk eine künstlerisch gestaltete Hülle sehen wollte. Und außerdem gebe es diejenigen, die bemüht seien mit dem gegebenen Material, einer sinnvollen Konstruktion und durch die Kunstform zu einem harmonischen Ganzen zu kommen.

Die Sempersche Linie sei falsch. Sie führe zur Lüge in der Baukunst:

"Dieser Richtung huldigen diejenigen Architekten, welche dicke Säulen, vielleicht mit einem Eisenkern versehen, aus zahllosen einzelnen Ziegeln aufmauern, Kanneluren einhauen und mit Marmorstuck überziehen lassen, dass sie wie aus einem einzigen Stück geschaffen erscheinen; welche die Architrave über den Säulen als hohle Kästen, auf Eisenschienen, mit Ziegeln aufmauern und ihnen dann durch tadellos glatten Verputz das Ansehen riesenhafter, monolither Balken geben; welche die scheinbar kühnsten Gewölbe - in Brettern herstellen und den arglosen Enthusiasten damit täuschen." (12)

Wie dem auch sei, Gruner sieht keinen neuen Stil vor sich, man müsse im Gegenteil auf überlieferte Formen zurückgreifen und aus diesem Fundus heraus solche Baustile zu neuer Qualität bringen. Diese überlieferten Stile, die zur Verfügung stehen und mit denen nach strenger Logik der Baukunst zu bauen sei, teilt er in zwei Hauptarten:

"die des klassischen und die des romantischen Styls" (13)

Den Architekturströmungen des romantischen Stils spricht er weniger Qualität zu, diejenigen, die auf der Linie des klassischen Stils arbeiten, lobt er. Den Griechen sei eine sehr klare Logik des Aufbaus ihrer Gebäude gelungen. Zu dieser einmal geschaffenen Qualität habe sich unter den Römern eine neue Qualität hinzugesellt, und man könne sich bei der heutigen oft minderwertigen Qualität der Baukunst damit trösten, daß "im Laufe der Jahrtausende nur ganz wenige neue Hauptformen hinzu erfunden worden" seien. Man ersieht daraus, Gruner ist von der Lehre der Tektonik des Bötticher sehr stark beeinflußt und sortiert ehrliche und verlogene Baukunst nach festen Kriterien. Allerdings arbeitet er dabei rückwärtsgewandt und will nicht wahrhaben, daß neben den Neo-Stilen bereits das "Neue Bauen" stattfindet. Er verliert sich in Betrachtungen, wie innerhalb der Baukunst mit Neo-Stilen zu mehr Reinheit und Wahrhaftigkeit zu kommen ist und prangert Lüge und Verlogenheit in dieser Baukunst an. Die griechische Baukunst ist ihm das Ideal schlechthin. Sie mache Staunen, und er bewundert,

"dass die griechischen Baumeister ihre Detailformen mit Bewusstsein und Ueberlegung für den Steinbau ersannen und ausbildeten" (14)

Diese Logik des Steinbaus ist es wohl auch, welche die Architekten an die überlieferten Stile so sehr festband. Man sieht: auch gegen Ende des 19.Jahrhunderts gelingt die Loslösung ihren architekturtheoretischen Auffassungen von der historisch gewachsenen Steinbaulogik nicht. Die Lüge oder Wahrhaftigkeit, die man innerhalb des Systems der Logik des Steinbaus aufzeigen kann, läßt sich interessant aufgrund der Lehre der Tektonik diskutieren. Es kommt aber nicht automatisch dazu, die große Lüge dieses Zeitalters zu diskutieren, dessen Fachwelt so tut, als müsse von Architekten immer noch nach der Logik des Steinbaus gebaut werden, obwohl das neue Material Eisen eine ganz neue Logik der Baukunst erzeugt hat.

Man könnte meinen, er findet zu dieser neuen Logik der Baukunst, welche das Eisen mit sich bringt, wenn man liest:

"Wir nannten /.../ die zusammengeleimten, gelötheten und geschraubten Hauptgesimse "Lügen"; ist aber eine mildere Bezeichnung am Platze für jene Kragsteine unter Erkern und Balkonen, welche, aus Zinkblech oder Gyps hergestellt, als willkürlich, meist in Steinformen gestaltete Mantel der eigentlich tragenden Eisenkonstruktion an- und umgehängt werden, ohne die leiseste Andeutung des Prinzips, das dieser Konstruktion zu Grunde liegt?" (15)

Aber dies ist nicht der Fall.

Hier liegt einerseits Sehnsucht vor, man könne mit einer künstlerisch veredelten Eisenkonstruktion zur Wahrhaftigkeit in der Baukunst gelangen, aber Gruner schildert zugleich das Dilemma, in dem er sich selbst befindet:

"Ein gänzliches Brechen mit den überlieferten Stylformen und ein Neuentwickeln derselben von vorne an ist nicht denkbar; unsere Aufgabe ist es vielmehr, diese uns vererbten Formen mit modernem Geist zu erfüllen" (16)

Man sieht: die Moderne der Architekten am Ende des 19.Jahrhunderts kann sich aus den Architekturtraditionen nicht lösen. Denn, so schreibt Gruner kurioserweise selbst:

"so sieht es bis jetzt leider nicht so aus, als ob unsere zeitgenössische Architektur einer wirklichen Besserung, nämlich der Vereinigung des echten Materials in schöner Form zum wahren Ausdruck baulichen Gedankens entgegenginge!" (17)

Das ist genaugenommen Fundamentalkritik am Verharren in der Logik des Steinbaus, der Gruner mit seiner von Bötticher übernommenen Tektonik anhing. Was in diesem Aufsatz fehlt, ist die Auseinandersetzung mit dem Ingenieurbau dieses Zeitalters, um die Arbeitsansätze der Ingenieure, die parallel zu dem architekturtheoretischen Denken der Architekten entwickelt worden sind, im Vergleich durchdenken zu können. Gruner bringt nur eine pauschale Abwertung ihrer gestalterischen Fähigkeiten, was eine unproduktive Selbstreflektion des Architektendenkens mit sich gebracht hat.

Karl-Ludwig Diehl

Anmerkungen:
(1) Gruner: Die Lüge in der Baukunst. S.85-88 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1888
(2) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.85
(3)-(4) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.86
(5) siehe: Gruner, wie vor, S.86
(6)-(9) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.86
(10) siehe: Gruner, wie vor, S.86
(11)-(13) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.87
(14) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.88
(15)-(17) zitiert aus: Gruner: Die Lüge in der Baukunst. S.94-95 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1888. S.95

Keine Kommentare: