Sonntag, 29. November 2009

Städtebau der 1820er Jahre: das neue Stadtviertel von Mühlhausen zwischen Kanal und Altstadt


Zwischen Altstadt und Kanal mit Freihafengebiet entstand in den 1820er Jahren in Mühlhausen ein neues Quartier. Der engen Altstadt waren schon viele entflohen und hatten sich außerhalb des beengten Stadtgebietes Wohnhäuser geschaffen. Man war jedoch unzufrieden mit dieser Entwicklung, weil sie ungeplant und die Gebäude "ohne Symmetrie und Ordnung" gereiht wurden.

"Um diesem Uebelstande zu begegnen, und einen großen, der Zierde der Stadt und vielseitigen Interessen entsprechenden, ein Ganzes bildenden Stadttheil zu schaffen, kaufte Herr Nikolaus Köchlin im Jahre 1825 einen Theil der zwischen der Stadt und dem Kanale gelegenen Grundstücke an, und verband sich mit einer Gesellschaft von Akzionären zur Ausführung dieses Projektes." (1)

Köchlin und seinen Aktionären standen die Architekten J.Gottfried Stotz und Felix Fries zur Verfügung, die einen städtebaulichen Entwurf für das fragliche Gebiet zwischen Altstadt und Kanal entwarfen.

Am Rande der Altstadt sahen sie einen großen runden Platz vor, von dem wie Sonnenstrahlen breite Boulevards abgehen. Vier davon führen in Richtung Kanal. Zwischen dem Dreieck der mittleren beiden Strahlen sahen sie einen Park vor, an dessen Ende ein prachtvolles Gebäude der Société industrielle mit dem Börsensaal darin aufgebaut werden sollte. Entlang der Boulevards am Park wünschte man sich Gebäude, die mit Arkadengängen den Straßenraum begleiten, um den prächtigen Eindruck des neuen Stadtteiles zusätzlich zu verstärken. Insgesamt waren 69 Gebäude durch Nikolaus Köchlin und seiner Aktiengesellschaft zu bauen. So sah es der Entwurf der Architekten vor. Durch die Investoren sollten die wichtigen städtebaulichen Achsen dieser Neustadt ihre repräsentative Randbebauung erhalten.

Die Grundzüge des städtebaulichen Entwurfes lassen sich den Zeichnungen entnehmen. Auch sind Grundrisse und Ansichten der Gebäude auswertbar. An Randflächen der Entwurfszeichnung des Stadtteils hatten die Architekten Ansichten mancher Fassaden, Perspektiven von Treppenaufgängen und einzelne Grundrisse zur Illustration angeord- net, um die Idee, die sie entwickelt hatten, schmackhafter zu machen.



Das Motiv ist deutlich erkennbar. Es sollte vermittelt werden, daß der neue Stadtteil gehobenen Wohnansprüchen genügen wird. Wie man zu dieser Zeit in einer großen bürgerlichen Familie mit gehobenen Ansprüchen wohnt, ist geschildert:

"Für eine größere, bürgerliche Familie, die in höheren Beziehungen lebt, ist in der Regel ein eigenes Haus erforderlich, das gewöhnlich geschlossen und von einem Thürhü- ter bewacht wird. An der Einfahrt eines solchen Gebäudes liegt daher die Portierswohnung." (2)

Man kann sich das anhand von Grundrissen eines solchen Hauses bewußt machen, das für diese Neustadt in Mühlhausen gebaut wurde.

"Die Einfahrt selbst wird mit einem durch Säulen und Blumen, Bassins u.s.w. dekorirten Vestibul versehen, von wo die Hauptstiege in die obern Geschosse führt." (3)

Man trifft genau auf diese Anordnung, wenn man sich den Entwurf für ein großes Wohnhaus der Neustadt in Mühlhausen ansieht.

"Sind die Stallungen in dem Hause selbst, so sucht man sie in einem eigenen, von dem größern Hofe des Hauses abgeschlossenen Hofe unterzubringen. Neben der Stallung liegt dann die Sattelkammer, von wo eine kleine Stiege in die oberhalb liegende Stroh- und Heukammer führt. Die Mistgrube wird mit einer möglichst hohen Mauer umgeben, damit die Ausdünstungen in die Höhe geführt werden." (4)

Wir befinden uns in einer Zeit, als die Kutschen noch das Verkehrsmittel darstellten und ausgeritten wurde. Die Stallung im Haus und die Remise waren also in einem Haus der gehobenen Gesellschaftsschicht eine Notwendigkeit. Außerdem war viel Personal im Haus zu beschäftigen. In der Küche wurde von ihm gekocht, in der Waschkammer von ihm Wäsche gewaschen, usw. Die Räume für diese Tätigkeiten lagen im Erdgeschoß:

"Im Erdgeschosse sucht man außer den Kutschenremisen noch eine Waschkammer, und neben derselben ein Zimmer zum Biegeln der Wäsche unterzubringen, außerdem noch die Küche mit Speise- und Holzkammer und Bedientenzimmer. Aus der Küche führt dann eine Verbindungstreppe nach dem Zwischenstock und dem Servicezimmer neben dem Speisesaal. Ist im Erdgeschosse noch ein Badezimmer unterzubringen, so wird dieses möglichst nahe an eine Treppe und gewöhnlich an eine Verbindungstreppe gelegt." (5)

Diese Beschreibung aus der Biedermeierzeit mit den zeitgleichen Entwürfen für Mühlhausen zu vergleichen, ist sehr aufschlußreich. Es wird deutlich, in welchem Umfang die Raumbelegung durch das Personal und seine Arbeitsräume war. Da zu dieser Zeit ein sehr hohes und aufwendig ausgestattetes Vestibül gewünscht war, ergab sich eine Erdgeschoßhöhe, die den Einbau eines Mezzaningeschosses ermöglichte. In diesem lagen die Wohnräume für die vielen Angestellten und zusätzlich Abstellkammern. Über eine prachtvolle Treppe kam man in die Belle Etage. Man kann sich die Geschoßhöhe des Vestibüls in einem Schnitt ansehen. An diesem Schnitt wird auch die Lage des niedrigen Mezzanins im Kontext der anderen Geschosse verdeutlicht. Für die Arkadengänge entlang der Boulevards waren solche Geschoßhöhe des Erdgeschoßes natürlich von Vorteil. Es ergab sich so ein erhabener Eindruck. Als Gast durchschritt man also den Arkadengang, gelangte vor das Vestibül des Hauses, durchschritt den aufwendig gestalteten Vorraum der Prachttreppe und kam dann in die Belle Etage, wo man in die repräsentativen großen Säle geführt wurde, um empfangen zu werden.

"Im ersten Stock führt die Haupttreppe zuerst in das Vorzimmer, welches in direkter Verbindung mit dem Wohnzimmer, großen Saal und Speisesaal steht. An dem Speisezimmer liegt das Anrichtzimmer (office), wo alle zur Tafel gehörigen Geräthschaften aufbewahrt werden, und wo man den Nachtisch aufstellt. Dieses Zimmer steht also durch eine Nebentreppe in direkter Verbindung mit der Küche." (6)

Neben dem Wohnzimmer, das der Repräsentation diente, dem großen Saal und dem Speisesaal, leisteten sich betuchte Familien weitere Räume, mit denen Renommée gestaltet werden konnte:

"Im ersten Geschosse werden nun noch in größern Häusern Gastzimmer, Billard, Bibliothek, Gallerie u.s.w. untergebracht." (7)

Aber man war auch auf Fortschritt auf anderen Gebieten aus:

"Auf geruchlose Abtritte und alle möglichen, kleinen Verbundungstreppen mit dem obern Stock wird alle Rücksicht genommen." (8)

In das 2. Stockwerk legte man die Schlafzimmer, Kinderzimmer, auch Gästezimmer und zugehörige Kammern für Dienstleute. Im Dachboden wurde der gesamte Raum dazu gebraucht, Wäsche trocknen zu können. Ob man in Mühlhausen wie in Paris das Schlafzimmer dazu benutzte, um tagsüber "Visiten daselbst" zu empfangen, könnte möglich sein.

"In den Pariser Häusern ist es gebräuchlich, daß das Schlafzimmer in der Reihe und in gehöriger Verbindung der Wohnzimmer, Salons und Vorzimmer steht; weil die Pariser gewöhnlich den Tag über im Schlafzimmer bleiben, und Visiten daselbst empfangen; deßhalb wird auch das Bett gewöhnlich schön dekorirt, der Boden mit Teppichen belegt, und alles aufgewendet, um sich das Leben darin bequem zu machen." (9)

Man müßte die Grundrisse der Wohnungen der Neustadt von Mühlhausen alle durcharbeiten können, um die Lage der damaligen Schlafzimmer zu untersuchen.

Wie aus dem Entwurf der Architekten J.Gottfried Stotz und Felix Fries hervorgeht, sind für die Neustadt unterschiedlich große Wohnhäuser vorgesehen worden. Solche kleineren bürgerlichen Häuser haben dann in jedem Geschoß eine separate Wohnung, oder, wenn die Verhältnisse noch einfachere waren, lagen sie sogar um einen gemeinsamen Hof herum. Solche Wohnungen hatten dann nur eine Küche, ein Wohn- und ein Schlafzimmer. Waschraum und Trockenboden wurden dann gemeinsam genutzt. In welchem Umfang damals eine soziale Mischung angestrebt wurde, müßte erarbeitet werden. Eine Hierarchie der Wohnungen geht schon aus dem städtebaulichen Entwurf her-
vor. Die besseren Wohnungen lagen zum Park hin. Alle diese Wohnbauten erhielten einen Arkadengang. Wer hier wohnte, brauchte nur den Boulevard queren, um sich im Park ergehen zu können.

Karl-Ludwig Diehl

baugeschichte (at) hotmail.com

Anmerkungen:
(1) zitiert aus: o.A.: Ueber das neue Quartier von Mühlhausen. S.244-247; S.255-256 und Zeichnungen auf S.246, auf den Blättern CXL bis CXLIV in: Allgemeine Bau-
zeitung. Wien, 1837. S.244f.
(2)-(5) zitiert aus: o.A., wie vor, S.255
(6)-(7) zitiert aus: o.A., wie vor, S.255f.
(8)-(9) zitiert aus: o.A., wie vor, S.256

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