Die Moderne, die sich im 19.Jahrhundert entfaltet, war für die Menschen dieses Zeitalters ein spannendes Ereignis. Golo Mann schreibt dazu:
"Daß man in einer ungewöhnlichen Zeit lebte, hatte man schon im späten 18.Jahrhundert geglaubt; aber damals hatte es sich um den einmaligen Schritt gehandelt, von einer mittelalterlich-unvernünftigen in die vernünftig geordnete Welt. Jetzt war immer Krise; jetzt hatte jede Zeit ihr eigenes Gesetz, um dessen Erfüllung sie rang.." (1)
Im 19.Jahrhundert blühten die Wissenschaften auf. Die alten Auffassungen brachen zusammen. Geologie, Paläontologie und andere wissenschaftliche Disziplinen schufen ein historisches Gerüst der Weltentwicklung, der Entwicklung des Lebens und der Menschheit. Immer weitere Fragen wurden aufgeworfen, wie sich alles entwickelt hat. Die Welt wurde immerzu neu geschichtlich interpretiert und der Historismus entstand als neue Methode, mit dem Vergangenen umzugehen.
Um das Neue entwickeln zu können, griff man auf die Vergangenheit zurück. Man wollte die Entwicklungsstränge verstehen, um an ihnen in die Zukunft hinein weiterbauen zu können. Das warf zugleich das Problem auf, wie mit den vielen Vergangenheiten umzugehen ist, die aufgeworfen werden konnten. Wertsysteme waren zu entwerfen, auf die hin Vergangenheit auszuwerten war. Der Sinn und Zweck jeglichen Tuns und Handelns geriet auf den Prüfstand. Man wollte die Bedingungen und Antriebe verstehen, welche zur Entfaltung der Geschichte geführt hatten. Und man wollte aus der Geschichte heraus die neuen Ziele des Handelns begründen.
Voraussetzung für den Historismus war die Entdeckung der Individualität, "der unwiederholbaren Einzigkeit und Einzigartigkeit des Besonderen", wie Thomas Nipperdey es ausformuliert. Diese Individualität könne man nur erkennen, wenn man ihre Entwicklung begreife und wenn man versuche, sie aus ihren eigenen Voraussetzungen und nicht aus den überzeitlich verstandenen Voraussetzung der eigenen Gegenwart zu verstehen. (2)
Humanität ist dann nicht mehr Entfaltung der allgemein menschlichen Eigenschaften, sondern die Entfaltung seiner individuellen Anlagen. Historische Erscheinungen werden so zum Ausdruck vieler schaffender Geister. Der Sinn, der diesem geistigen Schaffen zugrunde liegt, ist endlich zu erschließen. Eine solche Arbeitsmethodik zu entwickeln, die den Sinn erschließen kann, der dem geistigen Schaffen der gestaltenden Individuen zugrunde lag und liegt, war das Thema der Moderne des 19.Jahrhunderts. Man wollte die historischen Vorgänge endlich begreifen, sie kritisch durchdringen, sie als Verflechtungen nebeneinanderstehender Ursachen verstehen, den Verursachungsprozeß dezidierter ergründen. Es ging darum, diese Unendlichkeit der Ursachen, die zugleich als Repräsentanten der inneren Freiheit des Menschen deutlicher entdeckt wurden, zu verstehen. Die Geisteswissenschaften explodierten. Und mit ihr explodierte die Quellenkritik. Es wurde üblich, deutlicher zu hinterfragen, was die Zeugnisse der Vergangenheit eigentlich aussagen. Es entstand "eine neue Überzeugung von der Unableitbarkeit und dem Eigenrecht des Individuellen", die das Geschehen, das zu den kulturellen Äußerungen der Menschheit geführt hatte, anders und kritischer betrachten ließ. Die Bewegungskräfte der Geschichte kennenlernen zu wollen, schuf eine aufregende Spannung, die man als das typische Kennzeichen des 19.Jahrhunderts ansehen kann.
Es darf daher nicht verwundern, wenn in der historistischen Architektur immerzu Zitate von Architekturen vergangener Zeiten auftauchen und als bedeutungsvolle Verweise auf die komplizierten Entwicklungsstränge der Baugeschichte in der Architektur der Gegenwart des 19.Jahrhunderts plötzlich eine so große Rolle spielen. Die Fortschrittsgeschichte der Menschheit, die sich so in der historistischen Architektur widerspiegelt, hat auf diese Weise ihren ganz eigenartig schönen Ausdruck gefunden. Es entstand damals das Bild einer organisch gewachsenen Kultur, und ihren Wurzeln war man auf der Spur, alles das fand sich wieder als Abbild in der Architektur. Es ist grober Unfug, eine solche Baukunst so abzuwerten, wie man es im 20.Jahrhundert gerne tat. Im Gegenteil: man sollte sich die Baukunst des Historismus sinnvoll erschließen und ihren Wert herausarbeiten. In ihr liegt viel Schönheit.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1) zitiert aus: Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. und 20.Jahrhunderts. Frankfurt, 1989 (1958). S.110f.
(2) siehe: Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte, 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München, 1991. S.500
Montag, 30. November 2009
Kritischer Geist steckt fest und findet nicht zum Neuen: Wahrheit und Lüge in der deutschen Baukunst am Ende des 19.Jahrhunderts
Im Jahre 1888 entschloß sich die Allgemeine Bauzeitung, einen Beitrag des Bau-Kommissärs Gruner zu drucken, dem daran lag, "Wahrheit und Lüge in der Baukunst" erkennbar zu machen. (1) Er formuliert eingangs, wohl anstachelt durch die Lehre der Tektonik von Bötticher:
"die Pflicht eines jeden Architekten sollte es /.../ sein, die Bedeutung der Elemente und Formen, mit denen erarbeitet, beständig im Auge zu behalten und die Tektonik bei seinen Entwürfen und Entschliessungen die letzte Richterin sein zu lassen." (2)
Es sei einfach, ehrlich zu bauen, wenn es sich um reine Nutzbauten handelt. Das Aussehen sei Nebensache. Ein Heuspeicher, eine Wächterhütte oder eine Brücke für die Holzabfuhr würden in der Regel keine Kunstform erheischen, und man könne sie leicht so schlicht gestalten, wie es "ihr Zweck und die nackte Nothwendigkeit" erfordern.
Bei einem Grundriß, selbst bei einer handwerksmäßigen Leistung, sei das meist schon anders, da immer verschiedene Anordnungen der Räume gewählt werden könnten. Da könne es durchaus passieren, daß unwahre Verhältnisse zustande kommen. Er erwähnt Treppen in Dresden:
"So findet man z.B. in Dresden häufig Hausfluren mit nach beiden Seiten aufsteigenden, scheinbar gleichwerthigen kurzen Treppen, von denen jedoch nur eine bis zur Haupttreppe, die andere hingegen nur bis zur nächsten Wohnungsthüre führt. Diese Anordnung ist nicht nur künstlerisch falsch, weil der für alle Hausbewohner bestimmte Weg zur Treppe wichtiger ist und dementsprechend anders betont werden muss, als der nur zu einer einzelnen Wohnung führende, - sondern sie ist auch unzweckmässig, weil man beim Eintritt in's Haus schwankt und nicht weiss, ob man sich nach rechts oder links wenden muss." (3)
Das Beispiel ist sehr gut gewählt. Es dürfte nützlich sein, auf ähnlich seltsame Anordnungen gestoßen zu werden.
Ein Kind der Zeit dürfte jedoch diese kritische Anmerkung sein:
"Eine andere Wahrheit im Grundriß liegt vor, wenn die Scheidewände der oberen Geschosse mittelst Eisenträgern ganz anders angeordnet werden, als die der unteren; denn die Baukunst pflegt die Stabilität, und ihre schwerlastenden Schöpfungen sollen entweder auf der Mutter Erde sicher gegründet ruhen, oder in Form von Bögen, Gewölben und Kuppeln sofort befriedigende Auskunft über ihr Freitragen geben. Das Inderluftschweben nach Vogelmanier, wobei man nicht recht weiss, wie es eigentlich ermöglicht wird, ist uns mit dem Begriff einer Mauer unvereinbar." (4)
Der Mauerwerksbau erheischt Mauern, die von Geschoß zu Geschoß übereinander stehen, so der Gedanke. Sobald weite Eisenträger zum Einsatz beim Mauerwerksbau kommen, verändert das jedoch die gesamten Verhältnisse. Es besteht dann in Wahrheit kein Grund mehr, Mauer über Mauer zu stellen. Die Tragwerksstruktur ist jedoch ungewohnt und die neuen Möglichkeiten, die damit geschaffen werden können, um der Architektur eine andere Sprache zu geben, sind noch nicht gut durchdacht, wenn eine solche Kritik geübt wird. Das tektonisch ausgerichtete Denken der Zeit will Mauer über Mauer und empfindet das als wahr. Gruner kann auch Fassadengliederungen im Mauerwerksbau nicht ertragen, bei denen zum Mittel der "blinden Fenster" gegriffen wird, da sie nach ihm "als anklagende Zeugen eines Konfliktes zwischen Grundriß und Façade dastehen" und nach ihm nichts anderes sind als Lügen. (5) In der Tat existiert dieser Konflikt zwischen Grundriß und Fassade, er macht aber zugleich deutlich, daß der Baustil weiterentwickelt werden muß, sodaß dieser Konflikt aufgehoben ist. Gruner ergeht sich deshalb in dem Thema Baustil:
"Hier gilt es zuerst, sich wegen der Wahl des Styles schlüssig zu machen." (6)
Er meint, "ein wirklich echter Styl" könne eigentlich garnicht gewählt werden, sondern man habe sich bei dem Entwurf eines Bauwerkes mit der Art der Raumüberdeckung, dem Zweck, dem Material, dem Zeitgeist, der künstlerischen Befähigung auseinanderzusetzen, da sich dadurch das Bauwerk selbst ergebe. Wenn man die einzelnen Aspekte durchgehe, könne man sehen, wie die Lage derzeit sei. Er zeigt dann am Beispiel des neuen Baustoffes Eisen auf, das es ganz neue Verhältnisse schafft, jedoch sich dadurch bis dahin kein neuer Baustil ergeben habe:
"Soweit das Material in's Spiel, kommt, weist die Neuzeit wohl einen Faktor im Bauwesen auf, der geeignet wäre, den Anstoss zur Entwickelung eines neuen Styls zu geben: das Eisen in seinen verschiedenen Arten, wie: Guss-, Schmiede- und Walzeisen, und in seiner Verbindung mit kolossalen Glasflächen oder mit Füllmauern zu Dächern und Wänden. So viel aber auch schon in diesem Material gearbeitet worden ist, so grosse Bauwerke mit Hülfe desselben entstanden (es sei nur an die mächtigen Bahnhofshallen, die Ausstellungspaläste, die Brücken von riesenhafter Höhe und Spannweite erinnert): einen diesem Material eigenthümlichen Styl sahen wir bis jetzt noch kaum geboren werden und es hat auch kaum den Anschein, als ob dies dem lebenden Geschlechte beschieden sein würde." (7)
Offensichtlich, so sagt dieser Abschnitt, bringt ein neuer Baustoff mit neuen Eigenschaften zwar neue Möglichkeiten, aber bis daraus eine umwälzend neue Baukunst entsteht, vergeht Zeit. Bei den Eisenbahnwaggons blieben die Waggons für den Personentransport als Kutschengehäuse erhalten. Auch das Automobil erinnerte mit seinem Fahrgastgehäuse noch an Kutschen. Zur Architektur seiner Zeit sagt Gruner:
"Bei all den genannten Bauwerken wurden entweder vom Architekten die Stylformen des Steinbaues angewandt, oder der Ingenieur begnügte sich mit der aus Zweck und Konstruktion sich ergebenden nackten Nutzform und verzichtete geflissentlich auf jeden Versuch einer künstlerischen Durchbildung." (8)
Der Satz spricht von einem Gegensatz Architekt und Ingenieur. Der eine könne sich nicht von den Gesetzmäßigkeiten des Mauerwerksbaues lösen und verharre in Baustilen, die mit dem Mauerwerksbau aufgekommen waren, der andere besitze die Fähigkeit, mit dem neuen Baustoff Eisen umzugehen, gelange aber zu keiner künstlerischen Durchbildung, sondern zeige den Baustoff gewissermaßen im Rohzustand. Gruner selbst repräsentiert diesen Konflikt, wie sich oben bei dem Thema Scheidewände zeigte. Nach der Logik des Mauerwerksbaues müssen sie übereinanderstehen. Seine Sicht der gestalterischen Fähigkeit des Ingenieurs läßt andererseits tief blicken. Er spricht ihm die Fähigkeit ab, gerade durch seine Vorgehensweise im Umgang mit dem Material eine neue Art der Baukunst zu erzeugen. Gruner ist nicht in der Lage, in diesen Tragwerksbauten der Ingenieure eine neue Epoche der Baukunst zu sehen. Er sieht auch nicht, daß gerade in der "aus Zweck und Konstruktion sich ergebenden Nutzform" der eigentliche Keim einer neuen Baukunst liegen müsse, die bereits in der Entfaltung begriffen ist. Er führt danach eine Klage über die Unfähigkeit der Architekten, aus ihrer Zeit heraus zum neuen Baustil zu gelangen:
"Solche Erscheinungen, solche gänzliche Unfruchtbarkeit auf architektonischem Gebiete können den denkenden Architekten recht muthlos machen." (9)
Daß er selbst auf dem Gebiet der Architektur stecken blieb, reflektiert er nicht mit, sondern kritisiert diejenigen Architekten, die sich "mit einem allgemeinen Elan" "auf den Deutschrenaissance-Styl" warfen, wobei sie auf etwas zurückgegriffen hätten, was sich in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Krieg entfaltet hätte und durch ihn untergegangen sei. Man würde heutzutage, so schreibt er im Jahre 1888, die deutsche Renaissance zur Modesache gemacht haben. Die Architekten hätten sie jedoch "nicht kapirt, sondern gedankenlos kopirt". Außerdem hätte man im Sturmschritt "alle nachfolgenden Stylperioden durchlaufen", schon sei man beim Barock und Zopf angelangt. Sein Fazit: "und die Architektur hat wieder einmal abgewirthschaftet." (10)
Das Eigenartige ist jedoch, daß er nur die Vorgehensweise der modernen Deutschrenaissanceler kritisiert und nicht die Tatsache, daß sie einen solchen Baustil erneut aufleben lassen. Sie hätten sich zu wenig darum gekümmert, wie "stylgerecht" in Form der Deutschrenaissance zu bauen ist. Er verweist auf Absurditäten:
"wenn wir aber diesem Styl zuliebe hohe Giebel errichten und damit in der Façade steile Dächer andeuten, wo keine Bodenräume und nur ganz flache Dächer dahinter liegen, oder wenn wir Dockengeländer auf eine Façade stellen, zu denen kein Mensch gelangen kann, so sind das eben Lügen" (11)
Die Kritik erscheint berechtigt, andererseits wird nur darauf abgehoben, wahre Verhältnisse auch innerhalb eines Neo-Stiles zu zeigen. Daß der Baustil selbst eigentlich überlebt ist, wird damit nicht gesagt. Es geht ihm um die Logik des Mauerwerksbaues, die rein daher kommen soll. Und wenn ein relativ flaches Dach gewählt wurde, soll das nicht kaschiert werden. Er sieht, wie aus dem weiteren Werdegang der Ideenentwicklung in seinem Aufsatz deutlich wird, unter den Architekten zwei Fraktionen vor sich, die handeln. Die einen würden sich an Semper anlehnen, der um ein Tragwerk eine künstlerisch gestaltete Hülle sehen wollte. Und außerdem gebe es diejenigen, die bemüht seien mit dem gegebenen Material, einer sinnvollen Konstruktion und durch die Kunstform zu einem harmonischen Ganzen zu kommen.
Die Sempersche Linie sei falsch. Sie führe zur Lüge in der Baukunst:
"Dieser Richtung huldigen diejenigen Architekten, welche dicke Säulen, vielleicht mit einem Eisenkern versehen, aus zahllosen einzelnen Ziegeln aufmauern, Kanneluren einhauen und mit Marmorstuck überziehen lassen, dass sie wie aus einem einzigen Stück geschaffen erscheinen; welche die Architrave über den Säulen als hohle Kästen, auf Eisenschienen, mit Ziegeln aufmauern und ihnen dann durch tadellos glatten Verputz das Ansehen riesenhafter, monolither Balken geben; welche die scheinbar kühnsten Gewölbe - in Brettern herstellen und den arglosen Enthusiasten damit täuschen." (12)
Wie dem auch sei, Gruner sieht keinen neuen Stil vor sich, man müsse im Gegenteil auf überlieferte Formen zurückgreifen und aus diesem Fundus heraus solche Baustile zu neuer Qualität bringen. Diese überlieferten Stile, die zur Verfügung stehen und mit denen nach strenger Logik der Baukunst zu bauen sei, teilt er in zwei Hauptarten:
"die des klassischen und die des romantischen Styls" (13)
Den Architekturströmungen des romantischen Stils spricht er weniger Qualität zu, diejenigen, die auf der Linie des klassischen Stils arbeiten, lobt er. Den Griechen sei eine sehr klare Logik des Aufbaus ihrer Gebäude gelungen. Zu dieser einmal geschaffenen Qualität habe sich unter den Römern eine neue Qualität hinzugesellt, und man könne sich bei der heutigen oft minderwertigen Qualität der Baukunst damit trösten, daß "im Laufe der Jahrtausende nur ganz wenige neue Hauptformen hinzu erfunden worden" seien. Man ersieht daraus, Gruner ist von der Lehre der Tektonik des Bötticher sehr stark beeinflußt und sortiert ehrliche und verlogene Baukunst nach festen Kriterien. Allerdings arbeitet er dabei rückwärtsgewandt und will nicht wahrhaben, daß neben den Neo-Stilen bereits das "Neue Bauen" stattfindet. Er verliert sich in Betrachtungen, wie innerhalb der Baukunst mit Neo-Stilen zu mehr Reinheit und Wahrhaftigkeit zu kommen ist und prangert Lüge und Verlogenheit in dieser Baukunst an. Die griechische Baukunst ist ihm das Ideal schlechthin. Sie mache Staunen, und er bewundert,
"dass die griechischen Baumeister ihre Detailformen mit Bewusstsein und Ueberlegung für den Steinbau ersannen und ausbildeten" (14)
Diese Logik des Steinbaus ist es wohl auch, welche die Architekten an die überlieferten Stile so sehr festband. Man sieht: auch gegen Ende des 19.Jahrhunderts gelingt die Loslösung ihren architekturtheoretischen Auffassungen von der historisch gewachsenen Steinbaulogik nicht. Die Lüge oder Wahrhaftigkeit, die man innerhalb des Systems der Logik des Steinbaus aufzeigen kann, läßt sich interessant aufgrund der Lehre der Tektonik diskutieren. Es kommt aber nicht automatisch dazu, die große Lüge dieses Zeitalters zu diskutieren, dessen Fachwelt so tut, als müsse von Architekten immer noch nach der Logik des Steinbaus gebaut werden, obwohl das neue Material Eisen eine ganz neue Logik der Baukunst erzeugt hat.
Man könnte meinen, er findet zu dieser neuen Logik der Baukunst, welche das Eisen mit sich bringt, wenn man liest:
"Wir nannten /.../ die zusammengeleimten, gelötheten und geschraubten Hauptgesimse "Lügen"; ist aber eine mildere Bezeichnung am Platze für jene Kragsteine unter Erkern und Balkonen, welche, aus Zinkblech oder Gyps hergestellt, als willkürlich, meist in Steinformen gestaltete Mantel der eigentlich tragenden Eisenkonstruktion an- und umgehängt werden, ohne die leiseste Andeutung des Prinzips, das dieser Konstruktion zu Grunde liegt?" (15)
Aber dies ist nicht der Fall.
Hier liegt einerseits Sehnsucht vor, man könne mit einer künstlerisch veredelten Eisenkonstruktion zur Wahrhaftigkeit in der Baukunst gelangen, aber Gruner schildert zugleich das Dilemma, in dem er sich selbst befindet:
"Ein gänzliches Brechen mit den überlieferten Stylformen und ein Neuentwickeln derselben von vorne an ist nicht denkbar; unsere Aufgabe ist es vielmehr, diese uns vererbten Formen mit modernem Geist zu erfüllen" (16)
Man sieht: die Moderne der Architekten am Ende des 19.Jahrhunderts kann sich aus den Architekturtraditionen nicht lösen. Denn, so schreibt Gruner kurioserweise selbst:
"so sieht es bis jetzt leider nicht so aus, als ob unsere zeitgenössische Architektur einer wirklichen Besserung, nämlich der Vereinigung des echten Materials in schöner Form zum wahren Ausdruck baulichen Gedankens entgegenginge!" (17)
Das ist genaugenommen Fundamentalkritik am Verharren in der Logik des Steinbaus, der Gruner mit seiner von Bötticher übernommenen Tektonik anhing. Was in diesem Aufsatz fehlt, ist die Auseinandersetzung mit dem Ingenieurbau dieses Zeitalters, um die Arbeitsansätze der Ingenieure, die parallel zu dem architekturtheoretischen Denken der Architekten entwickelt worden sind, im Vergleich durchdenken zu können. Gruner bringt nur eine pauschale Abwertung ihrer gestalterischen Fähigkeiten, was eine unproduktive Selbstreflektion des Architektendenkens mit sich gebracht hat.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1) Gruner: Die Lüge in der Baukunst. S.85-88 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1888
(2) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.85
(3)-(4) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.86
(5) siehe: Gruner, wie vor, S.86
(6)-(9) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.86
(10) siehe: Gruner, wie vor, S.86
(11)-(13) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.87
(14) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.88
(15)-(17) zitiert aus: Gruner: Die Lüge in der Baukunst. S.94-95 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1888. S.95
"die Pflicht eines jeden Architekten sollte es /.../ sein, die Bedeutung der Elemente und Formen, mit denen erarbeitet, beständig im Auge zu behalten und die Tektonik bei seinen Entwürfen und Entschliessungen die letzte Richterin sein zu lassen." (2)
Es sei einfach, ehrlich zu bauen, wenn es sich um reine Nutzbauten handelt. Das Aussehen sei Nebensache. Ein Heuspeicher, eine Wächterhütte oder eine Brücke für die Holzabfuhr würden in der Regel keine Kunstform erheischen, und man könne sie leicht so schlicht gestalten, wie es "ihr Zweck und die nackte Nothwendigkeit" erfordern.
Bei einem Grundriß, selbst bei einer handwerksmäßigen Leistung, sei das meist schon anders, da immer verschiedene Anordnungen der Räume gewählt werden könnten. Da könne es durchaus passieren, daß unwahre Verhältnisse zustande kommen. Er erwähnt Treppen in Dresden:
"So findet man z.B. in Dresden häufig Hausfluren mit nach beiden Seiten aufsteigenden, scheinbar gleichwerthigen kurzen Treppen, von denen jedoch nur eine bis zur Haupttreppe, die andere hingegen nur bis zur nächsten Wohnungsthüre führt. Diese Anordnung ist nicht nur künstlerisch falsch, weil der für alle Hausbewohner bestimmte Weg zur Treppe wichtiger ist und dementsprechend anders betont werden muss, als der nur zu einer einzelnen Wohnung führende, - sondern sie ist auch unzweckmässig, weil man beim Eintritt in's Haus schwankt und nicht weiss, ob man sich nach rechts oder links wenden muss." (3)
Das Beispiel ist sehr gut gewählt. Es dürfte nützlich sein, auf ähnlich seltsame Anordnungen gestoßen zu werden.
Ein Kind der Zeit dürfte jedoch diese kritische Anmerkung sein:
"Eine andere Wahrheit im Grundriß liegt vor, wenn die Scheidewände der oberen Geschosse mittelst Eisenträgern ganz anders angeordnet werden, als die der unteren; denn die Baukunst pflegt die Stabilität, und ihre schwerlastenden Schöpfungen sollen entweder auf der Mutter Erde sicher gegründet ruhen, oder in Form von Bögen, Gewölben und Kuppeln sofort befriedigende Auskunft über ihr Freitragen geben. Das Inderluftschweben nach Vogelmanier, wobei man nicht recht weiss, wie es eigentlich ermöglicht wird, ist uns mit dem Begriff einer Mauer unvereinbar." (4)
Der Mauerwerksbau erheischt Mauern, die von Geschoß zu Geschoß übereinander stehen, so der Gedanke. Sobald weite Eisenträger zum Einsatz beim Mauerwerksbau kommen, verändert das jedoch die gesamten Verhältnisse. Es besteht dann in Wahrheit kein Grund mehr, Mauer über Mauer zu stellen. Die Tragwerksstruktur ist jedoch ungewohnt und die neuen Möglichkeiten, die damit geschaffen werden können, um der Architektur eine andere Sprache zu geben, sind noch nicht gut durchdacht, wenn eine solche Kritik geübt wird. Das tektonisch ausgerichtete Denken der Zeit will Mauer über Mauer und empfindet das als wahr. Gruner kann auch Fassadengliederungen im Mauerwerksbau nicht ertragen, bei denen zum Mittel der "blinden Fenster" gegriffen wird, da sie nach ihm "als anklagende Zeugen eines Konfliktes zwischen Grundriß und Façade dastehen" und nach ihm nichts anderes sind als Lügen. (5) In der Tat existiert dieser Konflikt zwischen Grundriß und Fassade, er macht aber zugleich deutlich, daß der Baustil weiterentwickelt werden muß, sodaß dieser Konflikt aufgehoben ist. Gruner ergeht sich deshalb in dem Thema Baustil:
"Hier gilt es zuerst, sich wegen der Wahl des Styles schlüssig zu machen." (6)
Er meint, "ein wirklich echter Styl" könne eigentlich garnicht gewählt werden, sondern man habe sich bei dem Entwurf eines Bauwerkes mit der Art der Raumüberdeckung, dem Zweck, dem Material, dem Zeitgeist, der künstlerischen Befähigung auseinanderzusetzen, da sich dadurch das Bauwerk selbst ergebe. Wenn man die einzelnen Aspekte durchgehe, könne man sehen, wie die Lage derzeit sei. Er zeigt dann am Beispiel des neuen Baustoffes Eisen auf, das es ganz neue Verhältnisse schafft, jedoch sich dadurch bis dahin kein neuer Baustil ergeben habe:
"Soweit das Material in's Spiel, kommt, weist die Neuzeit wohl einen Faktor im Bauwesen auf, der geeignet wäre, den Anstoss zur Entwickelung eines neuen Styls zu geben: das Eisen in seinen verschiedenen Arten, wie: Guss-, Schmiede- und Walzeisen, und in seiner Verbindung mit kolossalen Glasflächen oder mit Füllmauern zu Dächern und Wänden. So viel aber auch schon in diesem Material gearbeitet worden ist, so grosse Bauwerke mit Hülfe desselben entstanden (es sei nur an die mächtigen Bahnhofshallen, die Ausstellungspaläste, die Brücken von riesenhafter Höhe und Spannweite erinnert): einen diesem Material eigenthümlichen Styl sahen wir bis jetzt noch kaum geboren werden und es hat auch kaum den Anschein, als ob dies dem lebenden Geschlechte beschieden sein würde." (7)
Offensichtlich, so sagt dieser Abschnitt, bringt ein neuer Baustoff mit neuen Eigenschaften zwar neue Möglichkeiten, aber bis daraus eine umwälzend neue Baukunst entsteht, vergeht Zeit. Bei den Eisenbahnwaggons blieben die Waggons für den Personentransport als Kutschengehäuse erhalten. Auch das Automobil erinnerte mit seinem Fahrgastgehäuse noch an Kutschen. Zur Architektur seiner Zeit sagt Gruner:
"Bei all den genannten Bauwerken wurden entweder vom Architekten die Stylformen des Steinbaues angewandt, oder der Ingenieur begnügte sich mit der aus Zweck und Konstruktion sich ergebenden nackten Nutzform und verzichtete geflissentlich auf jeden Versuch einer künstlerischen Durchbildung." (8)
Der Satz spricht von einem Gegensatz Architekt und Ingenieur. Der eine könne sich nicht von den Gesetzmäßigkeiten des Mauerwerksbaues lösen und verharre in Baustilen, die mit dem Mauerwerksbau aufgekommen waren, der andere besitze die Fähigkeit, mit dem neuen Baustoff Eisen umzugehen, gelange aber zu keiner künstlerischen Durchbildung, sondern zeige den Baustoff gewissermaßen im Rohzustand. Gruner selbst repräsentiert diesen Konflikt, wie sich oben bei dem Thema Scheidewände zeigte. Nach der Logik des Mauerwerksbaues müssen sie übereinanderstehen. Seine Sicht der gestalterischen Fähigkeit des Ingenieurs läßt andererseits tief blicken. Er spricht ihm die Fähigkeit ab, gerade durch seine Vorgehensweise im Umgang mit dem Material eine neue Art der Baukunst zu erzeugen. Gruner ist nicht in der Lage, in diesen Tragwerksbauten der Ingenieure eine neue Epoche der Baukunst zu sehen. Er sieht auch nicht, daß gerade in der "aus Zweck und Konstruktion sich ergebenden Nutzform" der eigentliche Keim einer neuen Baukunst liegen müsse, die bereits in der Entfaltung begriffen ist. Er führt danach eine Klage über die Unfähigkeit der Architekten, aus ihrer Zeit heraus zum neuen Baustil zu gelangen:
"Solche Erscheinungen, solche gänzliche Unfruchtbarkeit auf architektonischem Gebiete können den denkenden Architekten recht muthlos machen." (9)
Daß er selbst auf dem Gebiet der Architektur stecken blieb, reflektiert er nicht mit, sondern kritisiert diejenigen Architekten, die sich "mit einem allgemeinen Elan" "auf den Deutschrenaissance-Styl" warfen, wobei sie auf etwas zurückgegriffen hätten, was sich in Deutschland vor dem Dreißigjährigen Krieg entfaltet hätte und durch ihn untergegangen sei. Man würde heutzutage, so schreibt er im Jahre 1888, die deutsche Renaissance zur Modesache gemacht haben. Die Architekten hätten sie jedoch "nicht kapirt, sondern gedankenlos kopirt". Außerdem hätte man im Sturmschritt "alle nachfolgenden Stylperioden durchlaufen", schon sei man beim Barock und Zopf angelangt. Sein Fazit: "und die Architektur hat wieder einmal abgewirthschaftet." (10)
Das Eigenartige ist jedoch, daß er nur die Vorgehensweise der modernen Deutschrenaissanceler kritisiert und nicht die Tatsache, daß sie einen solchen Baustil erneut aufleben lassen. Sie hätten sich zu wenig darum gekümmert, wie "stylgerecht" in Form der Deutschrenaissance zu bauen ist. Er verweist auf Absurditäten:
"wenn wir aber diesem Styl zuliebe hohe Giebel errichten und damit in der Façade steile Dächer andeuten, wo keine Bodenräume und nur ganz flache Dächer dahinter liegen, oder wenn wir Dockengeländer auf eine Façade stellen, zu denen kein Mensch gelangen kann, so sind das eben Lügen" (11)
Die Kritik erscheint berechtigt, andererseits wird nur darauf abgehoben, wahre Verhältnisse auch innerhalb eines Neo-Stiles zu zeigen. Daß der Baustil selbst eigentlich überlebt ist, wird damit nicht gesagt. Es geht ihm um die Logik des Mauerwerksbaues, die rein daher kommen soll. Und wenn ein relativ flaches Dach gewählt wurde, soll das nicht kaschiert werden. Er sieht, wie aus dem weiteren Werdegang der Ideenentwicklung in seinem Aufsatz deutlich wird, unter den Architekten zwei Fraktionen vor sich, die handeln. Die einen würden sich an Semper anlehnen, der um ein Tragwerk eine künstlerisch gestaltete Hülle sehen wollte. Und außerdem gebe es diejenigen, die bemüht seien mit dem gegebenen Material, einer sinnvollen Konstruktion und durch die Kunstform zu einem harmonischen Ganzen zu kommen.
Die Sempersche Linie sei falsch. Sie führe zur Lüge in der Baukunst:
"Dieser Richtung huldigen diejenigen Architekten, welche dicke Säulen, vielleicht mit einem Eisenkern versehen, aus zahllosen einzelnen Ziegeln aufmauern, Kanneluren einhauen und mit Marmorstuck überziehen lassen, dass sie wie aus einem einzigen Stück geschaffen erscheinen; welche die Architrave über den Säulen als hohle Kästen, auf Eisenschienen, mit Ziegeln aufmauern und ihnen dann durch tadellos glatten Verputz das Ansehen riesenhafter, monolither Balken geben; welche die scheinbar kühnsten Gewölbe - in Brettern herstellen und den arglosen Enthusiasten damit täuschen." (12)
Wie dem auch sei, Gruner sieht keinen neuen Stil vor sich, man müsse im Gegenteil auf überlieferte Formen zurückgreifen und aus diesem Fundus heraus solche Baustile zu neuer Qualität bringen. Diese überlieferten Stile, die zur Verfügung stehen und mit denen nach strenger Logik der Baukunst zu bauen sei, teilt er in zwei Hauptarten:
"die des klassischen und die des romantischen Styls" (13)
Den Architekturströmungen des romantischen Stils spricht er weniger Qualität zu, diejenigen, die auf der Linie des klassischen Stils arbeiten, lobt er. Den Griechen sei eine sehr klare Logik des Aufbaus ihrer Gebäude gelungen. Zu dieser einmal geschaffenen Qualität habe sich unter den Römern eine neue Qualität hinzugesellt, und man könne sich bei der heutigen oft minderwertigen Qualität der Baukunst damit trösten, daß "im Laufe der Jahrtausende nur ganz wenige neue Hauptformen hinzu erfunden worden" seien. Man ersieht daraus, Gruner ist von der Lehre der Tektonik des Bötticher sehr stark beeinflußt und sortiert ehrliche und verlogene Baukunst nach festen Kriterien. Allerdings arbeitet er dabei rückwärtsgewandt und will nicht wahrhaben, daß neben den Neo-Stilen bereits das "Neue Bauen" stattfindet. Er verliert sich in Betrachtungen, wie innerhalb der Baukunst mit Neo-Stilen zu mehr Reinheit und Wahrhaftigkeit zu kommen ist und prangert Lüge und Verlogenheit in dieser Baukunst an. Die griechische Baukunst ist ihm das Ideal schlechthin. Sie mache Staunen, und er bewundert,
"dass die griechischen Baumeister ihre Detailformen mit Bewusstsein und Ueberlegung für den Steinbau ersannen und ausbildeten" (14)
Diese Logik des Steinbaus ist es wohl auch, welche die Architekten an die überlieferten Stile so sehr festband. Man sieht: auch gegen Ende des 19.Jahrhunderts gelingt die Loslösung ihren architekturtheoretischen Auffassungen von der historisch gewachsenen Steinbaulogik nicht. Die Lüge oder Wahrhaftigkeit, die man innerhalb des Systems der Logik des Steinbaus aufzeigen kann, läßt sich interessant aufgrund der Lehre der Tektonik diskutieren. Es kommt aber nicht automatisch dazu, die große Lüge dieses Zeitalters zu diskutieren, dessen Fachwelt so tut, als müsse von Architekten immer noch nach der Logik des Steinbaus gebaut werden, obwohl das neue Material Eisen eine ganz neue Logik der Baukunst erzeugt hat.
Man könnte meinen, er findet zu dieser neuen Logik der Baukunst, welche das Eisen mit sich bringt, wenn man liest:
"Wir nannten /.../ die zusammengeleimten, gelötheten und geschraubten Hauptgesimse "Lügen"; ist aber eine mildere Bezeichnung am Platze für jene Kragsteine unter Erkern und Balkonen, welche, aus Zinkblech oder Gyps hergestellt, als willkürlich, meist in Steinformen gestaltete Mantel der eigentlich tragenden Eisenkonstruktion an- und umgehängt werden, ohne die leiseste Andeutung des Prinzips, das dieser Konstruktion zu Grunde liegt?" (15)
Aber dies ist nicht der Fall.
Hier liegt einerseits Sehnsucht vor, man könne mit einer künstlerisch veredelten Eisenkonstruktion zur Wahrhaftigkeit in der Baukunst gelangen, aber Gruner schildert zugleich das Dilemma, in dem er sich selbst befindet:
"Ein gänzliches Brechen mit den überlieferten Stylformen und ein Neuentwickeln derselben von vorne an ist nicht denkbar; unsere Aufgabe ist es vielmehr, diese uns vererbten Formen mit modernem Geist zu erfüllen" (16)
Man sieht: die Moderne der Architekten am Ende des 19.Jahrhunderts kann sich aus den Architekturtraditionen nicht lösen. Denn, so schreibt Gruner kurioserweise selbst:
"so sieht es bis jetzt leider nicht so aus, als ob unsere zeitgenössische Architektur einer wirklichen Besserung, nämlich der Vereinigung des echten Materials in schöner Form zum wahren Ausdruck baulichen Gedankens entgegenginge!" (17)
Das ist genaugenommen Fundamentalkritik am Verharren in der Logik des Steinbaus, der Gruner mit seiner von Bötticher übernommenen Tektonik anhing. Was in diesem Aufsatz fehlt, ist die Auseinandersetzung mit dem Ingenieurbau dieses Zeitalters, um die Arbeitsansätze der Ingenieure, die parallel zu dem architekturtheoretischen Denken der Architekten entwickelt worden sind, im Vergleich durchdenken zu können. Gruner bringt nur eine pauschale Abwertung ihrer gestalterischen Fähigkeiten, was eine unproduktive Selbstreflektion des Architektendenkens mit sich gebracht hat.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1) Gruner: Die Lüge in der Baukunst. S.85-88 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1888
(2) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.85
(3)-(4) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.86
(5) siehe: Gruner, wie vor, S.86
(6)-(9) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.86
(10) siehe: Gruner, wie vor, S.86
(11)-(13) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.87
(14) zitiert aus: Gruner, wie vor, S.88
(15)-(17) zitiert aus: Gruner: Die Lüge in der Baukunst. S.94-95 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1888. S.95
Eine Einkaufspassage aus der Biedermeierzeit in London
In London war in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts ein großer Bazar zwischen zwei parallelen Straßen der Stadt errichtet worden. Eine dieser Straßen ist genannt, die andere leider nicht. Das erschwert die Suche nach der ursprünglichen Lage dieser Verkaufsstätte. Der Haupteingang lag an der Oxfordstreet. Er war repräsentativ gestaltet. Vermutlich wurden hier die Herrschaften vorgefahren. Das Dienstpersonal betrat wohl von der Parallelstraße aus einen Warteraum, denn es heißt fast schon abwertend in einer Beschreibung zu dieser Neuheit in dieser Metropole:
"Dann befinden sich daneben noch einige andere Zimmer n, o, in denen man ruhen und Erfrischungen zu sich nehmen kann, und wovon das Zimmer o für die Domestiken bestimmt ist, die ihre Herrschaften erwarten." (1)
Die Allgemeine Bauzeitung, die im 2.Jahrgang darüber berichtete, hält diese Einkaufspassage, für die es Vorbilder in Bazaren Vorderasiens gab, für eine ungewöhnliche Neuheit. Sie schwärmt über die Maßen von dem Bauwerk und will später darüber berichten, sobald weitere Unterlagen vorliegen:
"Dieß ist ein flüchtiger Entwurf von dieser sehr bedeutenden Anlage, die wenige ihres Gleichen in der Welt haben mag, und wovon wir unseren Lesern sobald als möglich Zeichnungen und nähere Mittheilungen geben zu können hoffen." (2)
Man hatte dem Bericht in der österreichischen Fachzeitschrift eine schlichte Grundrißzeichnung beigegeben.
An anderer Stelle im Text wird überschwenglich formuliert:
"Dieser Bazar, der in der Konstruktion und Anlage wirklich höchst großartig ist, enthält einen ungeheuren Raum, in welchem Waaren jeder Art, Gemälde, Skulpturen und andere Kunstwerke, Kuriositäten, Antiken, alle Arten von Erfrischungen, Blumen und seltene Gewächse, kurz alles, was der Luxus nur erfinden mag, aufgestellt sind." (3)
Der Bazar, mit seiner orientalischen Prägung, wurde damals offensichtlich als sehr aufregend erlebt. Wer ihn betrat, befand sich von Luxusgütern umgeben. Es ist zu vermuten, daß nicht jeder den Bazar betreten konnte, sondern darauf geachtet wurde, daß nur eine bestimmte Klientel diesen Bazar betrat.
Wertet man den Text zum Verständnis der Zeichnung aus, so ergibt sich folgende Anordnung der Räumlichkeiten:
a) ist der auf Säulen ruhende Vorbau vor dem Hauptein-
gang in den Bazar.
b) ist der Eingang auf der Rückseite.
c) ist das Vestibül am Haupteingang.
d) sind die Gänge und Galerien des Bazars.
e) ist der Vorraum vor der Treppe in die oberen Verkaufs-
räume.
f) ist die Treppe selbst, die nach oben führt.
g) ist ein großer und hoher Saal, der die Höhe der beiden
Verkaufsetagen hat. Durch Oberlicht wird der Saal erhellt.
h) ist eine weitere Treppe an anderer Stelle, die in die obe-
re Etage führt. Vermutlich bewegte sich der Einkäufer-
strom auf dieser Treppe wieder abwärts.
i) ist eine Rotunde, die sowohl unten wie oben vorhanden
ist.
k) ist ein Gewächshaus, von dem es heißt, es sei ganz
aus Eisen konstruiert. Die Blumen, die darin aufzufinden
waren, werden wohl sehr viel natürliches Licht gebraucht
haben.
l) ist der Springbrunnen im Gewächshaus.
m) ist ein Gewächshausanbau, erweitert um Sitznischen,
die im Halbrund um den Springbrunnen angeordnet sind.
Man hat hier offensichtlich Bänke eingebaut und zu die-
sen Nischenräumen Volièren hinzugefügt.
n) ist der schon erwähnte Erfrischungsraum, an den sich
der bereits genannte Warteraum
o) für die Domestiken anschließt. (4)
Es ist anzunehmen, daß die Domestiken nicht durch den Bazar wandern durften, sondern dies ein Privileg der gehobenen Gesellschaftsschichten war, die sich mit Dünkeln vor Eindringlingen aus unteren Schichten schützte.
Obwohl der Text zu diesem Bazar sehr kurz ist, der ausgewertet wurde, bietet er doch sehr viel Einblick in die sozialen Verhältnisse im London der Biedermeierzeit. Dieser Bazar, wie es im Text heißt, "im türkischen Geschmack", ist eigentlich ein Bazar, der anders als ein türkischer Bazar, nicht jedem zugänglich ist, sondern als Luxuseinrichtung ausgewiesen wurde, in der die besseren Londoner Kreise in gediegener Umgebung Einkäufe tätigten. Der Orientalismus, ein Thema für sich, schuf, als Ausstattungsbewegung, offensichtlich den gehobenen Schichten ein adäquates Ambiente.
Es dürfte interessant sein, herauszufinden, ob sich dieser historische Verkaufsraum noch erhalten hat. Desweiteren wäre die Funktion des Orientalismus in der europäischen Gesellschaft dieser Zeit herauszuarbeiten. Daß er als Baustil eine Variante der historistischen Architekturströmungen des 19.Jahrhunderts darstellt, darf angenommen werden. Man wird diesen Baustil aber nicht einfach als Stilgemisch auffassen können, sondern in der Begegnung mit dem Orientalischen die Nähe zu den anderen Kulturräumen geboten haben. Man wollte in einer globalisierten Welt leben. Diese galt vermutlich als ein offener Raum, die den reichen Reisenden zur Verfügung stand. Die Domestiken der jeweiligen Herrschaften hatten das Privileg, unterwürfig mit auf Reisen gehen zu dürfen, waren dabei aber ihrer Herrschaft ausgeliefert. Wer bereits unterwegs gewesen war, konnte in solch einem Bazar in seiner Erinnerung schwelgen. War er noch nicht unterwegs gewesen, bot sich ihm zumindest die Illusion, unterwegs zu sein.
Nach Recherchen stellte sich heraus:
Das Gebäude verschwand im Jahre 1937. (5) Zur genaueren Baugeschichte an diesem Ort gibt es gute Hinweise, die sich auswerten lassen. (6) Eine Fotografie des untergehenden Gebäudes fand sich. Weitere Recherchen sind nötig.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1)-(3) zitiert aus: o.A.: Der große Oxford Bazar oder das Pantheon in Oxford Street zu London. S.430 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1837
(4) siehe die Auflistung im Zusammenhang des Textes von: o.A., wie vor, S.430
(5) siehe zur Vorgeschichte dieses Bauwerkes:
http://en.wikipedia.org/wiki/Pantheon,_London
Darin am Ende die Notiz:
"In 1833–34, the Pantheon was rebuilt as a bazaar by the architect Sydney Smirke. The whole of the roof and part of the walls of the old building were taken down, but the entrance fronts to both Oxford Street and Poland Street were retained, as were also the rooms immediately behind the former. The main space of the new building was a great hall of basilican plan, with a barrel-vaulted nave of five wide bays. In 1867, the building was acquired by W. and A. Gilbey, wine merchants, and was used by them as offices and show rooms until 1937. It was demolished shortly afterwards to make way for a branch of Marks and Spencer, which is still there." (6) siehe:
http://www.british-history.ac.uk/report.aspx?compid=41477
Foto vom Zustand des Gebäudes im Jahre 1937:
http://www.british-history.ac.uk/image.aspx?compid=41521&filename=fig...
Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: ein Gebäude für die Seidenzucht in der Nähe von Paris
Der Architekt Destailleurs hatte in Villemonble, in der Nähe von Paris, für einen Herrn Grimaudet ein Gebäude für die Seidenzucht entworfen. Um dies tun zu können, nutzte er die Kenntnisse des H.d'Arcet, der ein Mitglied der französischen Wissenschaften in Paris war. Dieser hatte in Südfrankreich auf einer Forschungsreise sogenannte "Seidenbauhäuser" aufgesucht, um sich ein grundlegendes Fachwissen von der Seidenraupenzucht und den dafür notwendigen Gebäuden zu schaffen. Seidenraupen brauchen bestimmte Überlebensbedingungen. Sie müssen "den zu ihrer Zucht nöthigen Luftzug, so wie auch den passenden Grad von Wärme und Feuchtigkeit" antreffen. (1)
Offensichtlich war die Biedermeierzeit ein kulturgeschichtlicher Abschnitt, in dem in Europa die Seidenraupenzucht eine besondere Stellung einnahm, denn es heißt im Text aus dem Jahre 1836:
"Bei der großen Ausdehnung, deren sich der Seidenbau gegenwärtig beinahe durch ganz Europa erfreut, und der wichtigen Stellung, die dieser Artikel im jetzigen Handel einnimmt, dürfte die Beschreibung eines zweckmäßig angelegten Seidenbauhauses von nicht geringem Interesse sein." (2)
Es fragt sich also, wie zu dieser Zeit ein zweckmäßig angelegtes Seidenbauhaus aussehen sollte. Wir können zur Beantwortung dieser Frage das von Destailleurs geplante und für Grimaudet gebaute Bauwerk auswerten, da uns Grundrisse, Schnitte und weitere Hinweise zur Verfügung stehen. Was fehlt, sind Ansichten des Gebäudes, die uns etwas über den Baustil des Gebäudes aussagen könnten.
Zu den Abbildungen auf dem Blatt XCV ist gesagt:
"ist Fig. 1 der Grundriß des Erdgeschosses.
Fig. 2 der Grundriß des ersten Stockes
Fig. 3 Durchschnitt nach GH.
Fig. 4 Durchschnitt nach EF.
Fig. 5 Durchschnitt nach CD.
Fig. 6 Durchschnitt nach AB." (3)
Das Außenmauerwerk bildet ein langgestrecktes Rechteck. An die Mitte der Längsseite des Gebäudes wurde ein Treppenhaus angebaut. Den großen Innenraum des Seidenbauhauses hat der Architekt durch zwei Innenwände im Erdgeschoß verkleinert. Im Erdgeschoß stehen Pfeiler, welche die Geschoßdecke zusammen mit dem Außenmauerwerk tragen müssen. Durch die Trennwand wurde "ein Gemach für kalte oder warme Luft" vom großen Raum abgeteilt. Es wurde von hier aus die gleichmäßige Wärmeverteilung im Gebäude abgesichert. Entweder wurde beheizte Luft zur Zirkulation gebracht, oder man nahm Eis, um in der zu warmen Jahreszeit die zu warme Luft abzukühlen, die verteilt wurde.
"In diesem Gemache /.../ befindet sich der Herd /.../ mit einem Rohre, welches in den Schornstein /.../ einmündet. Hier sind Vorrichtungen angebracht, um den Luftstrom reguliren, und ihm nach Bedürfniß einen höhern oder niedern Wärmegrad, so wie mehr oder mindere Feuchtigkeit mitzutheilen." (4)
Der große Raum im Erdgeschoß wurde zum Trocknen der Maulbeerblätter genutzt. Außerdem wurden hier die Kokons der Seidenraupen abgesponnen.
Das Obergeschoß ist ein sehr hoher Raum. In ihn mündet vom Raum im Erdgeschoß, in dem die genau regulierte Warmluft zur Zirkulation gebracht wird, hier und da "hölzerne Kanäle", aus denen die Luft herausströmt. Auf hohen Stellagen, zwischen die Arbeitsgänge eingebaut sind, liegen die Gitter der "Seidenbaustube", wie der hohe Saal im Text genannt wird. Auf den Gittern leben die Seidenraupen und werden mit Maulbeerblättern gefüttert.
"Das Ausbrüten der Eier, Füttern der Würmer u. geschieht in diesem, so wie in jedem andern Seidenbauhause auf längst bekannte Weise." (5)
D'Arcet verweist auf die Schriften von Dandolo und Bonafous, wo sich sehr genaue Erörterungen dazu finden liessen. Es ist anzunehmen, daß diese Schriften in der Biedermeierzeit in guten Bibliotheken vorhanden waren. Andererseits sind im ausgewerteten Text andere Angaben gegeben, welche auf die Raumnutzung verweisen:
"Im Anfange der Zucht kann bloß 1/4 der Seidenbaustube benützt werden; zu dem Ende wird /.../ eine mit Papier bezogene Leinwand nach der ganzen Breite des Gebäudes aufgestellt, zugleich werden anfänglich alle Oeffnungen der untern und obern Züge in dem so abgeschiedenen Raume verstopft. Brauchen dann die Seidenraupen bei dem Fortgange der Zucht mehr Platz, so rückt man mit der Leinwand weiter vor, auch öffnet man nach und nach so viele Zuglöcher, als für nothwendig erachtet wird. Auf diese Art hat man jederzeit den Luftstrom in seiner Gewalt, ohne an Brennmaterial oder an Eis mehr verbrauchen zu müssen, als es die gerade vorhandene Menge der Seidenwürmer erfordert." (6)
Man hat also, je nach Raumbedarf der Seidenraupen, die Seidenbaustube, also das hohe Obergeschoß mit seinen Stellagen, von einer verkleinerten Raumnutzung zu einer immer größeren Raumnutzung verändert. Dabei half eine Trennwand aus Leinwand, die mit Papier luftdicht verklebt war. Dadurch war nur der gerade für die Aufzucht der Seidenraupen zu nutzende Raum zu temperieren. Folglich ließ sich der Brennmaterialverbrauch optimieren, genauso die Verbrauchsmenge des Kühlmaterials, um der zirkulierenden Luft die immer gleichmäßig hohe Temperatur zu geben. Mit den damaligen Thermometern und Hygrometern wurde in engen Zeitabschnitten sehr regelmäßig die Raumtemperatur der "Seidenbaustube" kontrolliert. Man stieg auch in das Dachgeschoß, da dort oben an der Qualität der Luft gespürt werden konnte, ob die Bedingungen im Zuchtraum für die Seidenraupen optimal waren.
Die technischen Einrichtungen, die zur Herstellung des optimalen Luftstroms gebraucht wurden, waren sehr umfangreich. Man arbeitete mit "Schubern", "Windfächern", Regulierschnüren im Obergeschoß und mit Ableitungsschläuchen verdorbener Luft z.B. im Erdgeschoß, um die bei Trocknungsprozeß der Maulbeerblätter entstandene Abluft entfernen zu können.
Man müßte Zeit dafür einsetzen, um die Seidenbauhäuser, die in der Biedermeierzeit gebaut wurden, oder in Betrieb waren, in einen Vergleich zu bringen. Dazu müßte sehr viel Archivmaterial zusammengetragen werden. Die Literatur zum Thema wird bereits sehr umfangreich sein, die auszuwerten wäre.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1) siehe dazu: d'Arcet: Beschreibung eines Seidenbauhauses, so wie dasselbe für die Gesundheit der Seidenraupen zweckmäßig erachtet wird, indem man demselben stets den zu ihrer Zucht nöthigen Luftzug, so wie auch den passenden Grad von Wärme und Feuchtigkeit mittheilen kann. S.438-441 und Zeichnungen auf dem Blatt XCV in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1836. S.438 Die Redaktion der Allgemeinen Bauzeitung scheint diesen Text als Übersetzung in die deutsche Sprache abgedruckt zu haben, es finden sich jedoch im Text Hinweise darauf, daß die Redaktion eigene Textstellen eingebaut hat.
(2)-(4) zitiert aus: d'Arcet, wie vor, S.438
(5)-(6) zitiert aus: d'Arcet, wie vor, S.440
Wasserbau in der Biedermeierzeit: Nutzwassergewinnung im Mailändischen
In der Biedermeierzeit wurde von der Provinz Mailand gesagt, sie besitze einen Überfluß an Quellen,
"denn allenthalben finden sich größere oder kleinere Seen, nie versiegende Wasserbecken, die von Flüssen gebildet, wieder Flüsse erzeugen, und endlich Kanäle, die zur Schifffahrt und zur Bewässerung bestimmt, das Mailänder Gebiet in allen Richtungen durchziehen; und in einer Tiefe von nur wenigen Mailänder Ellen finden sich häufig Schotterschichten vor, die dem Wasser das Durchsickern gestatten." (1)
Es wäre natürlich sinnvoll, gute topografische Karten aus der Frühzeit des Vermessungswesens auszuwerten, um diesen Landschaftsraum besser zu verstehen. Desweiteren wird es moderne Karten geben können, auf denen die historischen Wasserbauten kenntlich gemacht sind, sodaß Wasserbaumaßnahmen aus der Biedermeierzeit nachvollziehbarer werden.
Wasser wurde da gesucht, wo sich Schotter- oder Sandschichten aufspüren liessen:
"Die Erfahrung hat gelehrt, daß reichliche Quellen dort zu vermuthen sind, wo Schichten quarzartigen Schotters oder Sandes gelagert sind, oder wo in der Nähe Seen oder grosse Wasserbecken mit einem hochgelegenen Wasserspiegel sich befinden" (2)
Man mußte also einerseits gute Kenntnisse darüber haben, wie die Erdschichten aufgebaut sind, und andererseits ein Nivellement betreiben, um die Höhenunterschiede des Geländes zu kennen. Eine solche Bestandsaufnahme wird es aber nur hier und da gegeben haben können, weil solche Untersuchungen Geld verschlangen. Sie mußten jedoch der Anlage von Bewässerungsbrunnen vorangehen, weil offensichtlich der Bau solcher Anlagen kostspielig genug war. Deswegen wird angeführt:
"indessen pflegen die Mailänder der, mit nicht unbedeutenden Kosten verbundenen Anlage der Bewässerungsbrunnen (teste di fontana) folgende Untersuchung des Bodens voran zu schicken." (3)
Man darf gespannt sein, wie der Boden damals untersucht wurde:
"Man hebt nämlich auf derjenigen Stelle des Bodens, die man für quellenreich hält, und mit Rücksicht auf das Niveau des Ortes, dem das zu Tage geförderte Wasser zugeführt werden soll, eine Grube aus. Wenn nun bei dem Graben kein reiner, quarzhaltiger Schotter oder Sand vorgefunden wird, der das Auffinden von Quellen wahrscheinlich macht, so muß dieser Versuch an andern Orten wiederholt werden, bis man seinen Zweck erreicht" (4)
Man hat also Probefreilegungen der Erdschichtung gemacht, hatte dabei aber den Ort, wohin später das Wasser zu bringen war, im Auge zu behalten und außerdem eine gute Kenntnis der Höhenunterschiede des Geländes zu erwerben, bevor diese Probefreilegungen angegangen wurden. Dabei mußte immer darauf geachtet werden, möglichst nur da eine Freilegung vorzunehmen, die schon beim ersten Versuch zum Erfolg führte. Der Grund war natürlich die Kosteneinsparung.
Ergab sich ein erstes sinnvolles Resultat, grub man tiefer:
"so wird mit dem Ausheben der Materien noch weiter in einer Tiefe von einigen Ellen fortgefahren, und der Stand bezeichnet, den das hervorgequollene Wasser in der Grube einnimmt; hierauf aus derselben eine bestimmte Quantität, z.B. so viel als ein Eimer faßt, herausgeschöpft, und mittelst einer Sackuhr genau die Zeit beobachtet, die verfließt, bevor der in der Grube gleich nach dem Schöpfen befindliche Wasserspiegel die Niveauhöhe erreicht hat, die vor dem Ausheben der Flüssigkeit vorhanden war." (5)
Man war also darauf aus, die Ergiebigkeit zu ermitteln. Dazu wird wohl sehr viel Erfahrung eingebracht worden sein müssen, die auf einem modernen Erkenntnisstand beruhte. Wie dieser Erkenntnisstand zuvor war, ist angedeutet:
"Mehrere Architekten, besonders aber Alberti und Milizia, geben einige Verfahrensweisen zur Auffindung der Quellen an, die jedoch, weil sie auf keiner verläßigen Basis beruhen, selten das gewünschte Resultat herbeiführen." (6)
Der Satz ist interessant, weil er eine Geschichte des Wasserbaus im Mailändischen andeutet, von der uns wenig bekannt ist. Es gibt im Text aus der Biedermeierzeit auch eine Notiz, die uns sagt, was damals für ergiebig gehalten wurde:
"Die Größe der Ergiebigkeit einer Quelle steht im geraden Verhältnisse zu dem Zeitraume, der zur Wiedererzeugung der ausgehobenen Wassermenge nöthig ist; indessen nimmt man an, daß die Quelle schon ergiebig ist, wenn dieselbe den geschöpften Eimer in einer Minute ersetzt, wobei aber vorausgesetzt wird, daß die Weite der Grube, auf der Oberfläche des Wassers gemessen, etwa eine Flächenelle beträgt." (7)
Ist die Ergiebigkeit der Quelle sichergestellt, wird sie in einem Wasserbecken gefaßt, und es kann durchaus sein, daß nach weiteren Quellen in demselben Gebiet gesucht wird. Auch diese werden in einem Becken gesichert. Es war ein gewisser Abstand zwischen den Becken einzuhalten, damit nicht die eine freigelegte Quelle die andere in ihrer Ergiebigkeit beeinträchtigte:
"Werden nun mehrere Becken angelegt, so muß ihre Entfernung von einander beiläufig 300 Ellen, oder auch 300 Fuß eines Trabucco betragen. Rücksichtlich des Abstandes der Zuleitungsgräben aber, ist nur zu bemerken, daß derselbe von der Art sein soll, daß die Gräben einander nicht gegenseitig das Wasser entziehen." (8)
Man wird sich nun mit diesen Becken beschäftigen müssen, um die Wassergewinnung besser zu verstehen. Dazu gibt es auch Zeichnungen.
"Nachdem man auf diese Weise sich des Vorhandenseins des Wassers versichert hat, schreitet man zu der Anlage des bereits genannten Bewässerungsbrunnens. Die Form der Becken ist zuweilen rechtwinklig, gewöhnlich aber krummlinig /.../, und ihre Wände neigen sich nach jener Seite hin, wo das Wasser entströmen soll, dergestalt, daß sie daselbst einen Trichter bilden, an den dann der Graben oder Kanal stößt, der das in dem Becken gesammelte Wasser seiner Bestimmung entgegenführt, und deßhalb der Zuleitungsgraben (asta di fontana, auch fontanile) genannt wird." (9)
Es wurden zwei solcher Quellenfassungen mit Zuleitungsgraben auf einem Blatt mit Zeichnungen dargestellt, das dem Aufsatz vom Jahre 1836 beigegeben ist. Das Wort "Zuleitungsgraben" irritiert, da durch diesen Graben das Quellwasser dorthin abfließt, wo es gebraucht wird. Die Formulierung könnte daher rühren, daß man damals zu etwas leiten wollte, also hin zur Verbrauchsstelle. Man hätte heute vielleicht eher das Wort Ableitungsgraben erwartet, weil das Wasser durch diesen Graben abfließt. Es gibt Angaben zur Größe solcher Becken:
"Die Becken sind gewöhnlich 120 Meter lang, und in ihrer größten Weite etwa 24 Meter breit. Die Sohle des Zuleitungsgrabens hingegen erhält eine Breite von etwa 2 Meter, welche Breite entweder zu- oder abnimmt, je nachdem die von derselben geführte Wassermenge größer oder geringer ist." (10)
Damit sind Ausdehnungen angegeben. Um sich eine Vorstellung zu machen, hilft der Vergleich mit einem Fußballplatz. Dessen Größe schwankt zwischen 90 x 45 m und 120 x 90 m. Man hätte also die Länge eines Fußballfeldes und die halbe Breite vor sich. Eine solche Größe für eine Quellfassung mit einem Wasserbecken kann Staunen erregen. Zur Tiefe des Beckens gibt es ebenfalls Angaben:
"Das Becken wird /.../ so lange vertieft, bis dessen Grund etwa 0.30 Meter unter dem von dem Quellwasser gebildeten Wasserspiegel sich befindet; und die ihn umgebenden Erdwände erhalten eine Böschung, deren Basis zur Höhe sich wie 1 1/4 zu 1, oder wie 3 zu 2 verhält. Indessen ist es einleuchtend, daß dieses Verhältniß nach der besondern Beschaffenheit des Bodens oder Erdreichs auch wesentliche Aenderungen erleidet" (11)
Man läßt die tieferen Stellen des Raumes bestehen und nimmt Erdreich weg, um überall mindestens eine Tiefe für von 0.30 m für das ausgedehnte Becken herbeizuführen. Unter Umständen muß das aus der Quelle ausströmende Wasser vor dem Abrutschen der Erdmassen am Beckenrand geschützt werden:
"und so wird denn auch für den Fall, als dasselbe gar zu locker sein sollte, der Fuß mit steinernen Pfählen versichert, die mittelst Anzügen und Zangen in ihrer lothrechten Stellung erhalten, und an ihrer Rückseite mit Bretern verkleidet werden, so daß sich die Böschungen an die Breterwand lehnen; die Entfernung der Pfähle unter einander hängt von deren Dimensionen ab; wenn jedoch durch die Erdwände zu viel Wasser durchsickern sollte, so ist es gut, die Pfähle möglichst dicht neben einander, jedoch so zu schlagen, daß zwischen denselben keine Zwischenräume bleiben, durch die das Wasser frei ablaufen kann. Da jedoch derlei Pfahlwände stets kostspielig sind, so ist es besser, entweder den Böschungen eine größere Neigung zu geben, oder ein anderes Schutzmittel zu wählen." (12)
Man wird wohl darauf aus gewesen sein, die Böschung mit sehr geringer Neigung ansteigen zu lassen. Das langgestreckte Quellbecken erhielt in der Mitte einen eingetieften Graben, der dabei half, daß das Quellwasser leichter hervorquoll. War dieser Graben angelegt, der in den Wasserableitungsgraben am Ende des Beckens überging, so ließ man die Quelle ruhen, bis sich am Boden Wasserpflanzen bildeten. Man kannte Hinweise dafür, wo das Wasser im Becken aus dem Erdreich trat:
"Das Erscheinen der gemeinen Kresse wird als das verlässigste Anzeichen von dem Vorhandensein des Quellwassers angesehen, und es werden dort, wo sie am häufigsten vorkommt, die bodenlosen Bottiche a a a untergebracht, welche Augen (ocoli di fontana) genannt werden." (13)
Anhand dieses Pflanzenbewuchses sah man also die Stelle, an der sinnvollerweise ein "ocoli di fontana" unterzubringen war. Dort wurde ein Holzbottich eingebaut. Man kann sich einen solchen Holzbottich auf einem Blatt mit Zeichnungen ansehen. Man entdeckt solche auch in den Grundrißplänen und im Schnitt.
"Ein solcher Bottich hat die Form eines abgestumpften Kegels, ist der längern Dauer wegen aus erlenen oder steineichenen Dauben verfertigt, und in der Mitte so wie an den beiden Rändern zu, mit eisernen Reifen versehen." (14)
Man gab einem Bottich einen Durchmesser von etwa 1 m. Seine Höhe konnte 2,40 bis 3,00 m betragen. Es wurde im Quellbecken für jeden Bottich ein Loch ausgehoben, damit er über einem Quellbereich sicher eingelassen war. Er wurde so tief gesetzt, daß der Holzrand des Bottichs etwas über die Wasseroberfläche ragte. Darauf kam manchmal ein Holzdeckel, damit die Quelle rein blieb.
Verlagerte sich beim Eingraben des Bottichs die Ausquellstelle, nahm man den Bottich heraus und suchte nach einem anderen Standort. Es wurden reichlich Bottiche eingesetzt. In der einen Zeichnung findet man 25 solcher Bottiche. Diese hatten am oberen Rand ihre Einkerbungen, sodaß das Wasser austreten konnte. Die Wassermenge, die aus einem solchen großen Wasserbecken mit vielen Quellen abfloß, ist genannt:
"Das Maximum des von einem Bewässerungsbecken erhaltenen Wasserquantums beträgt 8 Magistral-Unzen, das Minimum etwa 1 Magistral-Unze, und auf den Grund der Erfahrungen, die der Professor Venturoli, der Pater de Regi, dann die Hydrauliker Tadini und Michelotti gemacht, wird nunmehr von den Hydraulikern angenommen, daß eine solche Unze in einer Minute 2.18155 Kubik-Meter (10.38 mail. Kubik-Ellen oder 29 mail.brente) liefern; allein viel häufiger wird von den Mailänder Kunsterfahrenen angenommen, daß das obige Wasserquantum 2.26 K.Met. (30 Brente) betrage." (15)
Neben den Maßangaben der damaligen Zeit sind die Namen der Hydrauliker von Interesse. Vermutlich sind es die profilierten Wissenschaftler dieser Provinz, oder des nördlichen Italiens, die sich mit solchen Fließgeschwindigkeiten beschäftigten und ihre Arbeitsergebnisse untereinander abklärten, um der Wahrheit am nächsten zu kommen.
In diesem Text aus dem Jahre 1836 finden sich demnach Hinweise zahlreicher Art. Man kann ihm weitere Angaben entnehmen, etwa die, wie man Bauern entschädigte, solange die Quellen arbeiteten, das Wasser aber anderswo gebraucht wurde. Auch gab es Regelungen für den Fall, daß die Quellen versiegten und das Areal wieder für die landwirtschaftliche Nutzung freizugeben war. Seit Alberti und Milizia hatte sich der Wasserbau in der Region Mailand erheblich verändert und war modernisiert worden. Es dürfte nicht uninteressant sein, zu wissen, wie er sich weiterentwickelte.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1)-(7) zitiert aus: o.A.: Verfahren der Mailänder bei dem Aufsuchen und der Leitung des Quellwassers. S.277-280 und Zeichnungen in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1836. S.277
(8) zitiert aus: o.A., wie vor, S.280
(9)-(11) zitiert aus: o.A., wie vor, S.277
(12)-(14) zitiert aus: o.A., wie vor, S.278
(15) zitiert aus: o.A., wie vor, S.280
Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: große Gehöfte im Agrarraum um Mailand
Von Anton Peter Pestagalli, der in Mailand ansäßig war, gibt es einen interessanten Aufsatz aus dem Jahre 1836, der sich mit dem Gehöftbau im mailändischen Agrarraum der Biedermeierzeit beschäftigt. Man versteht dadurch um einiges besser, wie in diesem Landschaftsraum gewirtschaftet wurde und welche Bauwerke sich die Bauern schufen. Bei Pestagalli handelt es sich um einen "Ingenieur-Architekten und Adjunkten der k.k.Ober-Baudirekzion in Mailand". Offensichtlich hatte er sich sehr viele Agrarbetriebe angesehen und Vergleiche angestellt. Als Beispiel für viele solcher Gehöfte nahm er
"das, dem Herrn Mauro Grassi gehörige, auf dessen Besitzung außer der Porta Ticinese im Weichbilde der Stadt Mailand gelegene Wirthschafts-Gebäude". (1)
Von diesem Gehöft ließ er Zeichnungen zu seinem Aufsatz drucken, um daran zu erklären, wie in der Regel solche Gehöfte aufgebaut sind. Es bleibt unklar, ob er selbst das Gebäude entworfen hat, oder ob es sich um eine Bestandsaufnahme handelt. Er könnte als Beleg für ein solches Gehöft auch den Plan eines anderen Architekten genommen haben.
Da Teile Italiens damals zum Kaiserreich Österreich zugehörig waren, wird der Allgemeinen Bauzeitung daran gelegen gewesen sein, diesen Teil des österreichischen Herrschaftsraumes besser zu verstehen. Förster, der diese Fachzeitung ins Leben rief, war sehr lange Zeit südlich der Alpen gereist, um sich Eindrücke zu verschaffen und Autoren unter den Architekten dieses Kulturraumes für sein Fachblatt zu finden. Vermutlich war er bei dieser Reise auf Pestagalli gestoßen, der von dem Gehöft des Mauro Grassi sagt:
"Mit größeren oder geringeren Abänderungen werden alle Gebäude dieser Art aufgeführt, und je nachdem die zu denselben gehörigen Gründe mehr oder weniger ausgedehnt sind, dann je nachdem sie bewässerungsfähig sind oder nicht, muß auch darnach die größere oder geringere Ausdehnung der Gebäude bemessen werden." (2)
Das Wirtschaften auf solchen Gehöften will verstanden werden. Auch muß man sich bewußt machen, wer alles auf einem solchen Gehöft lebte und was alles auf ihm unterzubringen war. Neben den Viehgattungen, die zu diesem Bauernhof gehörten, gab es auch Weiden für Bergamine:
"Bergamine heißen die zur Erzeugung des Käses gehaltenen Kuhheerden, und diese Benennung rührt von Bergamini her, unter welchem Namen vorzüglich diejenigen Privaten verstanden werden, die in den Bergen der Provinz Bergamo und Brescia, so wie in der Schweiz, auf den dortigen Weiden Kuhheerden besitzen, und dieselben im Herbste in den Wirthschaftshöfen der Ebene unterbringen, um gegen gewisse, mit den Eigenthümern jener Höfe festgesetzten Bedingungen während der rauhen Jahreszeit die zu der Wirtschaft gehörigen Wiesen als Weide für ihr Vieh zu benützen." (3)
Bergamini wurden aber auch solche genannt, die mit Vieh herumzogen, um es zu verkaufen, denn es heißt:
"Bergamini heißen aber auch die Besitzer von Kuhheerden, die in der Lombardie umherziehen, um ihr Vieh an die Landwirthe zu verkaufen, und nur in der Provinz Brescia heißen diese umherziehenden Heerdenbesitzer malghesi." (4)
Man hatte also durchaus Besuch durch Herdenbesitzer, die in der Ebene ihre Herden überwintern ließen, oder man hatte es mit Viehherden von herumziehenden Viehverkäufern zu tun, die für ihre Tiere pro Tagesabschnitt der Wanderung immer wieder eine Weide benötigten.
Solche Gehöfte im Mailändischen waren in der Regel sehr groß und lagen meist im Mittelpunkt sehr ausgedehnter Fluren. Zur Besitzung von Mauro Grassi sagt Pestagalli:
"Die Wirtschaftsgebäude werden im Allgemeinen im Zentrum der Wirthschaft, oder wenigstens nahe an demselben errichtet, und meistens umschlossen; und so liegt auch das nun zu beschreibende nahe an dem Zentrum der Besitzung, die 1000 Mailänder pertiche Grund vereint, und theils aus Wiesen, theils aus Aeckern besteht. Einige der Wiesen haben eine zeitweise, andere aber, nämlich die Winterwiesen, eine stete Bewässerung. Auch der Aecker sind zweierlei, nämlich solche, die, wie es in diesen Gegenden überhaupt gebräuchlich ist, mit Reihen von Weinreben, welche mitten durch das Getreide gezogen werden, bepflanzt sind." (5)
Zu den pertiche ist gesagt:
"Eine Mailänder pertica hat 654.50 Flächen-Meter." (6)
Man kann sich also gut eine Vorstellung von der Wirtschaftsfläche eines solchen Gehöftes machen. Da eine Unterscheidung zwischen Winter- und Sommer- oder Wechselwiesen gemacht wird, nützen einige Sätze zum besseren Verständnis:
"Die Winterwiesen unterscheiden sich von den gewöhnlichen Sommer- oder Wechselwiesen dadurch, daß sie nicht bloß in der mildern Jahreszeit, sondern auch im strengen Winter Gras liefern, weil sie überhaupt einen viel reicheren und mehr zugesicherten Zufluß von Wasser haben, das zur Winterszeit die ganze Fläche des Wiesengrundes ziemlich lebhaft überrieselt. Der große Nutzen, den solche Wiesen nicht bloß ihrem Eigenthümer, sondern überhaupt dem Lande bringen, mag daraus entnommen werden, daß dieselben bereits in der Mitte Hornung gemäht werden, und im Verlaufe von etwa 17 Monaten fünf bis sechs Grasernten liefern, sodaß man im Durchschnitte genommen von einem Wiener Joch 714 Wiener Zentner Gras erhält, von dem etwa nur 1/6 zu Heu gemacht wird." (7)
Doch wollen wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf die Bauanlagen richten. Neben den einfach gehaltenen Wirtschaftsgebäuden gab es die Wohnungen des Pächters und der Bauern.
"Jene Theile, die äußerlich ein besseres Aussehen erhalten, sind die von den Pächtern (fittabili) oder von den Bauern (coloni) bewohnten, welch' letztere von den erstern zur Bestellung der Gründe aufgenommen werden, und von denselben hiefür entweder einen bestimmten Taglohn, oder einen gewissen Antheil an dem Fruchterträgnisse erhalen." (8)
Da gab es also den Pächter des Gehöftes mit seinen sehr ausgedehnten Ländereien und die von ihm abhängigen Bauern. Aber auch der Eigentümer lebte manchmal auf dem Hof, ließ aber dann für sich einen Agenten arbeiten, der das Wirtschaften auf dem Gehöft organisierte. Dieser wohnte meist, wenn der Eigentümer nur zeitweise in für ihn hergerichteten Wohnräumen lebte, um gelegentlich vor Ort zu sein, in der Pächterwohnung. Wer in der Biedermeierzeit mehr über die gegenseitigen Verhältnisse "zwischen den Eigenthümern oder Pächtern und den Bearbeiter der Gründe wissen wollte, ferner über die Lage, in der diese verschiedenen Bevölkerungsklassen" sich in der Lombardei befanden, informiert sein wollte, der konnte ein Werk des "Gubernialraths Burger" heranziehen, das im Jahre 1832 in Wien herausgekommen war. Zur Pächterwohnung gibt es bei Pestagalli einen Exkurs.
"Die Wohnung des Pächters besteht zu ebener Erde aus irgend einem Vorgemache, aus einem mit einem Kamine versehenen Zimmer, in dem die Familie ihre häuslichen Verrichtungen vornimmt, aus der Küche mit dem hiezu gehörigen Backofen und Brunnen, aus einer Speisekammer, aus einem Weinkeller, der nach Möglichkeit unterirdisch angebracht wird, aus einer Waschkammer, aus einem Aufbewahrungsorte für die Feldgeräthschaften, endlich aus einer Holzlage, einem Hühnerstalle und einem Abtritte. In dem ersten Stockwerke, in das man über eine steinerne Stiege gelangt, befinden sich die Schlafzimmer, von denen aus das eine oder das andere einen Kamin hat, und das Arbeitszimmer des Familienhauptes." (9)
Es besteht nun bei dieser Darstellung das Problem, daß diese Beschreibung nicht zu dem Beispiel paßt, das Pestagalli gibt, denn auf dem Gehöft des Mauro Grassi lebt der Eigentümer selbst. Der Bestandplan dieses Gehöftes zeigt neben dieser Wohnung des Eigentümers die Wohnung des Agenten, der für den Eigentümer die Bewirtschaftung organisiert. Die Räumlichkeiten sind im Plan zwar nummeriert, aber wie sie genutzt werden, ist nicht so ohne Weiteres festzustellen. Dazu kommt noch, daß neben der ausführlicheren Beschreibung einer Pächterwohnung im erklärenden Text nur Allgemeinheiten zur Wohnung des Eigentümers formuliert sind:
"Nicht selten behält sich der Eigenthümer der verpachteten Gründe in dem ansehnlicheren Theile des Gebäudes einige Lokalitäten zu seiner eigenen Wohnung vor." (10)
Das sagt also etwas für den Fall aus, daß Eigentümer und Pächter in dem Wohnteil des Gehöftes untergebracht sind. Als Alternative gilt dieser Fall:
"Wenn aber der Eigenthümer der Gründe diese nicht verpachtet, sondern die Wirthschaft auf eigene Rechnung führt, und die Arbeiten durch Bauern besorgen läßt, dann wird die sonst von dem Pächter benützte Wohnung von einem Agenten bezogen, welcher die Arbeiten zu beaufsichtigen hat." (11)
Wir erfahren also eher eine Zusammenschau der Wohnverhältnisse auf den Gehöften im Mailändischen, die Wohnungen im abgedruckten Bestandsplan werden zwar als solche ausgewiesen, aber die Nutzung der Räume wird nicht erklärt. Es gibt jedoch andere Angaben, die dem Verständnis des Gehöftes dienen:
"Die Wohnungen sind im Allgemeinen sowohl im ebenerdigen, als im obern Geschosse 4 Meter hoch, haben Fußböden von Ziegeln, Sturzböden, dann Thür- und Fensterverkleidungen von gewöhnlichen Formen, und sind überhaupt mit allen jenen Bequemlichkeiten versehen, die man sonst in den Wohnungen der Handwerker oder in der Behausung einer Familie niedern Standes in der Stadt findet." (12)
Eine Ergänzung informiert über Gärten:
"Dann besitzen sowohl die Pächter als die Agenten durchgehends einen von Hecken oder Mauern eingeschlossenen Gartengrund, der ihnen das für ihre Küchen erforderliche Gemüse und auch Obst liefert." (13)
Es muß sich um eine Beschreibung von Privilegien handeln, wenn von diesen Wohnungen und Gärten die Rede ist. Dem Bauern standen nur eingeschränkte Verhältnisse zu, ist zu vermuten.
"Die Wohnungen der Bauern bestehen gewöhnlich für eine jede Familie aus zwei Zimmern, von denen das eine zu ebener Erde und das andere im obern Geschosse sich befindet; und wenn es möglich ist, fügt man einer solchen Wohnung entweder inner- oder außerhalb derselben einen kleinen Ort hinzu, in dem die Familie das zu ihrem eigenen Gebrauche auferzogene Geflügel unterzubringen pflegt." (14)
Auch diese Beschreibung ist eher allgemein, denn für den speziellen Fall des Hofes von Mauro Grassi schreibt Pestagalli zu den Wohnungen der Bauern:
"Im vorliegenden Falle ist für die Bauern kein oberes Wohngemach vorhanden, dafür ist aber der Raum im Erdgeschosse größer" (15)
Übrigens wird zu den Wohnungen der Bauern gesagt:
"Die Höhe der so eben besprochenen Lokalitäten entspricht der Höhe jener, die der Pächter inne hat, und man pflegt dieselbe nicht gerne geringer zu halten, weil die Bauern zum Behufe der Seidenzucht, womit die meisten auf Rechnung der respektiven Grundeigenthümer sich befassen, lüftige Wohnungen bedürfen." (16)
Dieser Hinweis sagt viel über die sozialen Verhältnisse auf einem solchen Hof. Wir befinden uns in der Biedermeierzeit. Wie sich solche Gehöfte im Laufe der Zeit wandelten, das wäre interessant zu wissen.
Über dem Wohnteil des Gehöftes lag ein sanft geneigtes Dach, das mit Hohlziegeln bedeckt wurde.
Zu den übrigen Bauanlagen eines Gehöftes gehörten die Viehställe. Diese gab es für Kühe, Ochsen und Pferde. Da sich die Bezeichnungen im Italienischen unterscheiden, erlaube ich mir ein Zitat zu diesen Gebäuden:
"so sind wohl die bedeutendsten hierunter die Viehställe, deren es drei Gattungen gibt, nämlich Kuhstallungen (stalloni), gewöhnliche Stallungen (stalle) für die zur gewöhnlichen Feldarbeit, so wie zur Verfuhr der Feldfrüchte und des Düngers verwendeten Ochsen und Pferde, und endlich Reserve-Stallungen von geringem Umfange, in denen die erkrankten Kühe untergebracht werden." (17)
Im Sommer mußte den Kühen ein anderer Aufenthalt ermöglicht werden:
"Außerdem wird ein niedrig gehaltener und eingedeckter Portikus angelegt, der den Kühen zur Sommerszeit, da sie in ihren Stallungen von der starken Hitze zu sehr leiden würden, zum Aufenthalte dient, und in der Mailändischen Mundart barco genannt wird." (18)
Was die Winterstallungen betrifft, so wurden unterschiedliche Raumhöhen für Pferde und Hornvieh geschaffen:
"Die Höhe der Hornviehstallungen beträgt gewöhnlich nicht über 2.50 Meter, jene der Pferdeställe hingegen wird um 1 Meter größer gehalten. Die Fenster der ersteren sind meistens klein, weil dem Hornviehe ein allzu großes Licht nicht zuträglich ist, und außerdem die Räume zur Winterszeit wärmer bleiben; die letzteren, die lüftiger sein müssen, haben größere Fenster, die ihrer Form nach jenen der Wohngemächer nahe kommen." (19)
Wer sich also um ein solches Gebäude bewegte, erkannte schon an den Fenstern die Funktion der Innenräume.
Für Heu wurden überdachte Lagerplätze geschaffen. War die Menge des geschnittenen Heues sehr groß, konnte man überdachte Vorbauten zur Lagerung nutzen. Man tat dies auch dann, wenn das Heu weiter austrocknen mußte, weil beim Transport o.ä. Regen aufgekommen war.
"Der Hof der Wirthschaft muß möglichst geräumig und sonnig sein, und wenn man demselben die Form eines gleichseitigen Rechteckes geben kann, wie in unserem Falle /.../, so ist es gut, in dessen Mitte die Scheune anzubringen, in der die Körnerfrüchte ausgedroschen und getrocknet werden; allein manchmal wird dieselbe außerhalb auf einem besondern Grunde aufgeführt. Der Boden der Scheune, welchen man mit vieler Sorgfalt aus Erde und Lehm bereitet, wird über dem Hofterrain in konvexer Form etwas erhaben gehalten, um den Abfluß des Regenwassers zu befördern, und ringsum mit einem Zaune oder einem niedern hölzernen Geländer umgeben, um das Vieh an dem Eindringen in die Scheune zu hindern." (20)
Die Lage des Käsemagazins direkt neben der Wohnung des Eigentümers des Hofes weist uns auf die Bedeutung der Käsezubereitung in einem solchen landwirtschaftlichen Betrieb. Es gibt Räume zur Aufbewahrung der täglich gewonnen Milch, wo kupferne Becken zum Einschütten bereitstehen. Es gab dafür Räume, die nur im Sommer genutzt wurden und offen gehalten waren, andere, die im Winter zu nutzen waren. Eine Käsekammer war zwischen diesen beiden Orten angelegt worden. Hier wurde die Milch gesotten, zum Gerinnen gebracht und daraus Käse gemacht. Der abgeschöpfte Rahm konnte zur Butter weiterverarbeitet werden.
Eine Dörrkammer (casirola) diente zur Einsalzung und Trocknung des weichen Käses. Danach, wenn die Trocknung abgeschlossen war, kam der Käse in das Käsemagazin. Man kann sich in den Grundrissen die Lage solcher Räume ansehen.
"Zur Erzeugung des Käses wird in der Wirthschaft ein eigener Käsebereiter (casaro) gehalten, der mehrere Burschen unter sich hat" (21)
Dem casaro stand eine eigene Wohnung im Gehöft zu. Sie läßt sich im beigegebenen Plan auffinden. Die Käserei selbst war besonders sorgfältig zu bauen, da sie sehr rein zu halten war. In der Nähe mußte auch ein Brunnen liegen. Man traf zu dieser Zeit im Mailändischen auf solchen Gehöften Schöpf- und Laufbrunnen an. Auf manchen Gehöften traf man auch auf Eisgruben, "welche mittelst rings um dieselbe gepflanzten hohen Bäumen gegen die Einwirkung der Sonnenstrahlen geschützt wird". Man brauchte sie offensichtlich bei der Käse- und Butterbereitung.
Molken, die in der Käserei ein Abfallprodukt waren, wurden zur Schweinefütterung genutzt. Den Schweinen standen sehr niedrige Stallungen zur Verfügung. Da an Tränken für alle Tiere auf dem Hof zu denken war, gab es sie reichlich. In der Regel waren das Gräben, in die Wasser geleitet wurde.
Zu einer Architekturbetrachtung fehlen im Aufsatz von Pestagalli die Ansichtszeichnungen. Er wird sie möglicherweise nicht beigegeben haben, weil es ganz unterschiedliche Baustile bei solchen Bauanlagen gegeben haben wird. Aber dies kann nur vermutet werden. Man müßte Gelegenheit haben, solche Bauernhöfe zu dokumentieren und Archivalien zu ihnen auszuwerten. Trotz dieser Einschränkungen, die sich bei Auswertung des Aufsatzes von Pestagalli ergaben, ist der Text sehr ergiebig, weil man sehr viel über diese Art der Gehöfte im Mailändischen erfährt.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1) zitiert aus: Anton Peter Pestagalli: Ueber die landwirthschaftlichen Gebäude im Mailändischen. S.309-313 und Zeichnungen auf dem Blatt LXIX in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1836. S.309
(2) zitiert aus: A.P.Pestagalli, wie vor, S.313
(3)-(4) zitiert aus einer Anmerkung der Redaktion zu dem Aufsatz von: A.P.Pestagalli, wie vor, S.309
(5) zitiert aus: A.P.Pestagalli, wie vor, S.310
(6) zitiert aus: A.P.Pestagalli, wie vor, S.309
(7) zitiert aus der Anmerkung zum Aufsatz von: A.P.Pestagalli, wie vor, S.310
(8)-(11) zitiert aus: A.P.Pestagalli, wie vor, S.310
(12)-(16) zitiert aus: A.P.Pestagalli, wie vor, S.311
(17)-(20) zitiert aus: A.P.Pestagalli, wie vor, S.312
(21) zitiert aus: A.P.Pestagalli, wie vor, S.313
Das Badezimmer in der Biedermeierzeit: Lassaulx richtet zwei Bäder in einem Bürgerhospital in Koblenz ein
In Koblenz arbeitete in der Biedermeierzeit ein Baumeister, der die Stelle eines Bauinspektors inne hatte. Dieser Baumeister Lassaulx fiel durch allerlei Veröffentlichungen auf, in denen er Erfindungen und Verbesserungen vorstellte. Er war auf eine Textstelle im Dictionnaire technologique gestoßen, durch die auf die "sinnreiche Heizmaschine" des Kupferschmieds Bizet in Paris hingewiesen wird. Dieser hatte seine Vorrichtung bereits genutzt, damit aufgeheiztes Wasser für Badewannen zur Verfügung stand. Daraufhin machte sich Lassaulx daran, im Bürgerhospital in Koblenz eine Beheizungsanlage für das Wasser zweier Badewannen einzurichten. Über Rohrleitungen war dadurch warmes Badewasser für Badewannen in zwei Badezimmern verfügbar geworden. Eine solche Einrichtung war sicherlich zu dieser Zeit eine große Neuerung. (1)
Zur Auswertung stehen uns ein Grundriß und ein Schnitt der nebeneinander liegenden Baderäume, sowie Detailzeichnungen der Beheizungsanlage zur Verfügung.
Lassaulx weist darauf hin, daß "der eigentliche Erfinder" dieser Heizmaschine, also der Kupferschmied Bizet, sie bereits mehrmals für einzelne Bäder angewendet hat,
"wo die Anlage ungleich wohlfeiler ist, indem hier der Wasserkasten, so wie die Schließhähne, unnöthig sind, und für die Heizmaschine ein Durchmesser von 8 Zoll im Lichten völlig hinreichend befunden wurde" (2)
Bevor ihm diese Erfindung von Bizet bekannt war, hatte Lassaulx in seinem Haus bereits eine Beheizungsanlage für sein Badewasser eingerichtet. All dies wirft Fragen auf, wie damals gebadet wurde und welche Vorrichtungen geschaffen worden waren, damit warmes Wasser zum Baden in Badewannen zur Verfügung stand. Doch beschäftigen wir uns hier nur mit den Baderäumen im Bürgerhospital in Koblenz. Die damalige Installation ist ausführlich beschrieben worden, damit die Zeichnungen verständlich werden:
"In einem Zimmer des obern Stocks in der Nähe der Krankensäle, und etwa 4 Fuß über dem Fußboden, steht ein hölzerner, mit gewalztem Blei ausgeschlagener Wasserbehälter A, Blatt LXII Fig.1 (im Grundriß, welcher durch die Steigröhre B einer im unteren Stock befindlichen Pumpe gefüllt wird." (3)
Man hat also zunächst mit Hilfe einer Pumpe das kalte Wasser in das Obergeschoß gepumpt. Es floß in einen Wasserbehälter aus Holz, der mit Blei ausgeschlagen war. Dieses Wasser konnte in die Badewannen abgelassen werden. Der Wasserbehälter speiste auch eine Entnahmestelle im Flur des oberen Stockwerkes. Wer Wasser benötigte, konnte sich hier Wasser entnehmen. Lassaulx formuliert zu dem Wasserbehälter:
"Er hat zwei Hähne C und D; durchs Oeffnen des erstern und mittelst einer vorgelegten Rinne kann sowohl die kupferne Badewanne E, als auch eine zweite F in dem anstossenden Zimmer, Fig.2, durch den in der Zwischenwand eingemauerten Trichter G gefüllt werden. Der andere Hahn D steht über einem Wasserstein auf dem Flur vor beiden Zimmern, damit das für den Bedarf der Bewohner des obern Stocks erforderliche Wasser hier abgezapft werden kann, und nicht aus dem untern Stock heraufgetragen werden muß, wodurch die Reinlichkeit der Treppe und Gänge mehr oder weniger leidet." (4)
Es ist sinnvoll, sich diesen Umstand bewußt zu machen. Im ersten Zimmer in der linken Ecke stand erhöht dieser mit Blei ausgeschlagene Holzkasten, dem mit einer Wasserpumpe aus dem Geschoß darunter Wasser zugeführt wurde. Von einem Wasserhahn, der keine Rohrverbindung zu den Badewannen hatte, ließ man Wasser über eine Rinne, die vermutlich angehängt wurde, in die Badewanne in demselben Raum ablaufen, die an der anderen Wand stand. In der Nähe dieser Badewanne befand sich in der Wand ein Trichter, in den ebenfalls Wasser eingelassen werden konnte. Es floß aus dem Trichter in einem Rohr in die Badewanne des benachbarten Bades. Damit das möglich war, mußte ebenfalls eine Rinne zwischen dem Wasserbehälter und diesem Trichter angelegt werden. Ein direkter Zufluß bestand nur zu der Wasserentnahmestelle im Flur. Bevor diese Wasserentnahme möglich wurde, mußten alle Personen, die im oberen Geschoß Wasser benötigten, nach unten laufen. Dadurch waren zuvor viele Unannehmlichkeiten vorgefallen, die nun reduziert waren.
Da das Hinaufpumpen des Wassers in den Wasserkasten im Obergeschoß auch zum Überlaufen führen konnte, hatte Lassaulx einen Überlauf eingerichtet. Dies ist so beschrieben:
"Die offene Röhre H steht etwas unter dem obern Rand des Wasserbehälters, und verhütet das Ueberlaufen desselben; sie führt in die Ablaufröhre J des Wassersteines auf dem Gange, und diese, wie jene KK der Badewannen, nach dem Trichter L einer außerhalb des Gebäudes angebrachten Ableitungsröhre." (5)
Wenn man sich das im Grundriß ansieht, sieht man drei Rohre, die aus den Badezimmern zu einem Wasserablauf außerhalb des Gebäudes hinstreben. Das sagt erst einmal, daß der Wasserablauf besser organisiert wurde als der Zulauf.
Nun zur "Heizmaschine" selbst. Um es vorweg zu nehmen, es ist ein Durchlauferhitzer. Das in die Badewanne eingelassene Wasser fließt durch ein unteres Rohr in die Heizmaschine, wird dort erwärmt, und fließt durch eine oberes Rohr in die Wanne zurück. Die Beschreibung aus der Biedermeierzeit ist so gehalten:
"Zur Erwärmung der Bäder dient die Heizmaschine M, Fig. 1 und 3, 4, 5 in der Ecke des ersten Zimmers. Sie besteht aus einem kupfernen birnförmigen Feuerbehälter N, Fig. 4 und 5, welcher offen und mit einem Rost O versehen ist; er endigt oben in einer Röhre P aus Eisenblech, welche den Rauch in eine benachbarte Schornsteinröhre abführt. An der Seite dieser Röhre befindet sich ein mit einem Deckel versehener Arm Q zum Einbringen der Kohlen. Der zwischen dem Feuerkasten N und dem Mantel R, von gleichem Metall und Form, bleibende Raum S steht mittelst den angelötheten kupfernen Röhren T T mit beiden Badewannen in Verbindung, von denen die eine oder die andere durch Schließung der Hähne V V V V von der Heizmaschine abgeschlossen werden kann. Ist nun die Badewanne gefüllt und sind die Hähne geöffnet, so füllt sich jener Zwischenraum S in der Heizmaschine natürlich ebenfalls mit Wasser, alsdann erst darf, aus begreiflichen Gründen, das Feuer angezündet werden, was durch einen unter den Rost gehaltenen brennenden Span, oder einige Papierschnitzel geschieht. Das Wasser zwischen dem Feuerbehälter und Mantel wird nun erwärmt, hierdurch spezifisch leichter, strömt mithin durch die obere Röhre in die Wanne, und ersetzt sich sofort durch die untere: es entsteht also ein Kreislauf, der so lange durch Nachfüllen von Kohlen unterhalten wird, bis das Badwasser den gewünschten Wärmegrad erhalten hat." (6)
Man muß also zunächst das Wasser in die Badewannen einlassen, die zum Baden genutzt werden sollen, dann wird der Ofen zum Heizen vorbereitet und die Hähne der Zirkulationsleitung des Wassers werden geöffnet. Dann wird der Ofen angezündet und durch die Hitze des Feuers erwärmt sich ein Wasserspeicher, der um diese Hitzequelle angeordnet ist. Nun setzt sich durch die Erwärmung des Wassers der Kreislauf in Bewegung. Sobald das Wasser in der Badewanne die gewünschte Temperatur hat, wird kein Brennmaterial mehr in den Ofen gegeben und das Feuer verliert an Kraft und geht schließlich aus.
Es stellt sich die Frage, wie man damals bei einer solchen Anlage das Badezimmer zu organisieren hatte. Lassaulx schreibt:
"Die Heizmaschine steht auf einer Steinplatte, damit die auf ein untergestelltes Blech fallende Asche den Fußboden nicht schädigen kann. Da der Rost in der Heizmaschine etwas von dem Fußboden entfernt, auch die obere horizontale Röhre etwas tiefer als der Wasserstand in der Wanne liegen muß, so wurde jede Wanne auf eine kleine Erhöhung W gestellt, die zugleich die Abflußröhren K K bedeckt und gegen Beschädigungen schützt, dabei etwas breit ist, damit die Krankenwärter darauf stehen können, um schwache Kranke bequem in und aus dem Bad zu heben." (7)
Man hat also den Ofen auf einer Steinplatte positioniert, damit die Brandgefahr reduziert ist, wenn Asche vielleicht noch mit Glut auf ein Blech aus dem Ofen abgelassen wird.
Außerdem erzwangen die Rohrleitungen zwischen Durchlauferhitzer und Wanne einen etwas erhöhten Standort der Badewannen, da das obere Rohr "etwas tiefer als der Wasserstand in der Wanne" liegen mußte.
Da Kranke in diesen Badewannen gebadet wurden, war die Plattform, auf der die Wanne stand, ausreichend breit zu machen, damit das Pflegepersonal die Patienten in das Wasser ablassen und relativ sicher aus dem Bad heben konnte.
Damals wurde auch geduscht. Es ist so dargestellt:
"Sollen Duschbäder gegeben werden, so geschieht dieß mit einer kleinen Druckpumpe, welche in die Wanne gestellt, an dieselbe befestigt und von den Kranken, oder den Wärtern in Bewegung gesetzt wird, außerdem auch zugleich als Handfeuerspritze benutzt werden kann." (8)
Man pumpte also das warme Badewasser in der Wanne mit Hilfe einer Handpumpe zu einem Duscharm, sodaß der Patient leicht von allen Seiten abgeduscht werden konnte. Leider fehlt eine Abbildung.
Lassaulx schildert weitere Beheizungsarten des Badewassers, die aber hier nicht abgehandelt werden sollen, da es nur um den Durchlauferhitzer im Bürgerhospital in Koblenz gehen soll.
Es hatte mich etwas überrascht, bereits in der Biedermeierzeit einen Durchlauferhitzer anzutreffen. Dieser scheint von dem Kupferschmied Bizet erfunden worden zu sein. Man wird dem genauer nachgehen müssen.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1) siehe: Lassaulx: Beschreibung der Badeanstalt in dem Bürgerhospital zu Koblenz. S.273-275 und Zeichnungen auf Blatt LXII in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1836; dazu die Textstelle bei Lassaulx: "Ich lernte diese sinnreiche Heizmaschine durch das Dictionnaire technologique Tome II. p.430 kennen". (Lassaulx, S.274)
(2) siehe Zitat im Zusammenhang in: Lassaulx, wie vor, S.274
(3)-(6) zitiert aus: Lassaulx, wie vor, S.273
(7) zitiert aus: Lassaulx, wie vor, S.273f.
(8) zitiert aus: Lassaulx, wie vor, S.274
Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: der Fleischmarkt in Parma
Die Provinz Parma war unter Napoleon I. zu Frankreich geschlagen worden. Als die Despotie Napoleons über Europa beendet worden war, kam das Herzogtum Parma an Marie-Louise. Marie-Louise, die aus dem österreichischen Kaiserhaus stammte, war aus politischen Gründen mit Kaiser Napoleon verheiratet worden. Durch den Niedergang seiner Herrschaft sah sie sich im Jahre 1814 in der Lage, sich von Napoleon zu trennen. Sie wurde daraufhin Herzogin von Parma und Castella und lebte schließlich mit dem Oberhofmeister Graf Neipperg in morganatischer Ehe, bis dieser verstarb. Die Herzogin von Parma hatte sich durch Bautätigkeit ein eigenes Schloß, zur Repräsentation eine Gallerie, ein Museum und eine Bibliothek erbauen lassen. Neben dem Findelhaus dürfte sie mit dem Bau des Fleischermarktes in der Stadt Parma darauf abgezielt haben, sich das Wohlwollen der Bevölkerung zu sichern. Unter Marie-Louise erlebte die Hauptstadt des Herzogtums Parma folglich eine rege Bautätigkeit:
"Zu den vielen öffentlichen Bauten, welche die Regierung Ihrer Maj.der Kaiserin Maria Louise in Parma auszeichnen, und worunter die Brücken über den Taro und die Trebbia, das schöne und große Theater zu Parma, das Findelhaus und die Thore daselbst, die Galerien der schönen Künste, der Bibliothek und des Museums der in den Herzogthümern ausgegrabenen Alterthümer, und endlich das herzogliche Schloß gehören, reihte sich eben jetzt das große Gebäude für den Fleischmarkt, welches Ihre Majestät auf Eigene Kosten erbauen ließen, und der Stadt Parma, wie es die Inschrift andeutet, als ein neues Unterpfand Höchstihrer mütterlichen Fürsorge, zur fortwährenden Benützung, unentgeldlich übergab." (1)
Mit solchen geschraubten Sätzen wurde damals die Mitfinanzierung als gute Tat einer Adeligen stilisiert, die selbst durch die Bevölkerung hochsubventioniert, d.h. ausgehalten, worden war. Andererseits hatte sie die öffentliche Leitung eines Territorialgebietes unter sich und stand in der Verantwortung.
Der Grund, warum man rasch einen solchen Fleischmarkt benötigte, ist beschrieben:
"Dieses Gebäude war um so nöthiger, als auch hier der Verkauf des Fleisches in mehreren Kaufladen der Straßen besorgt wurde, welche durch Verbreitung eines üblen Geruches, mehr noch durch die entstehende Unreinigkeit lästig, und selbst der Gesundheit der Bewohner nachtheilig waren." (2)
Man wollte also alle Fleischereien an einen Ort zusammenlegen, um die schädlichen Auswirkungen dieses Gewerbes besser in den Griff zu bekommen. Neben dem Geruch des Blutes zerlegter Tiere waren sicherlich die Abwässer einer Fleischerei eine Belastung für die Nachbarn gewesen.
Das Gebäude scheint eine U-förmige Bauanlage gewesen zu sein. An eine langgestreckte Reihung von 20 Kaufläden wurden an den Enden dieser Reihe rückwärtige Flügelbauten angeschlossen, unter denen sich Eiskeller für die Fleischer befanden. Vor den Räumlichkeiten der Fleischer hatte der Architekt einen langen und überdeckten Säulengang anlegen lassen, zu dem zwischen den Säulen Treppenstufen hinaufführten. Links und rechts am Ende dieses Ganges befanden sich öffentlich zugänglich Brunnentröge. Die Fleischer werden sich hier ihr Wasser geholt haben, das sie alltäglich für ihr Gewerbe benötigten. Jedem Fleischer war ein tiefer Raum zugewiesen worden, zu dem in der Mauer zum Säulengang hin jeweils eine Tür und ein Fenster eingelassen wurden. Sie wurden mittig zu dem Raum zwischen den Säulen des Säulenganges angeordnet. Man erkennt dies gut in der Ansicht der Fassade.
In der Mitte war zwischen der langen Reihe der Räume für die Fleischer ein Treppenhaus untergebracht. Jeweils ein weiteres Treppenhaus soll in den schon erwähnten rückwärtigen Gebäudeflügeln gebaut worden sein. Durch dieses kam gab es einen Zugang zu den Eiskellern. Über das mittig gelegene Treppenhaus im langgestreckten Gebäudeteil führte der Weg auf den Speicher unter dem Dach des Flei- schermarktes. Zu den Baustoffen wurde ausformuliert:
"Der Sockel des Gebäudes sammt Stufen, die Kapitäle und der Architrav sind aus harten Hausteinen, die Säulen selbst aus Ziegeln ohne Verputz." (3)
Im Schnitt ist erkennbar, daß die Trennmauern zwischen den Fleischerräumen im Dachraum nach oben weitergeführt wurden. Das Dreieck über diesen Mauern, in die Bögen eingelassen sind, diente zur Auflage der Pfetten der Dachkonstruktion. Diese Vorgehensweise wurde, ebenso wie die Dachbedeckung selbst, sehr gerühmt:
"Diese Dachschale bildet /../ eine der Feuersgefahr von außen, so wie dem Regen widerstehende dichte Decke, und durch Vermeidung aller Kehlbalken, Ständer und Windbänder auch große und lichte Räume /.../, die vorzüglich für Magazine mancher Art gut zu verwenden, und jenen der Bohlendächer gleich zu stellen sind. Zu diesen Vortheilen gesellen sich noch jene, daß der Seitenschub der Dachsparren aufgehoben, und die Belastung eines für diese Breite gewöhnlich auf liegende Art hergestellten sehr schweren, dem Bauholz im Allgemeinen sehr empfindlichen liegenden Dachstuhle auf die Hauptmauern beseitiget, und dem ungeachtet geeignet wird, gegen Stürme und Windstöße größeren Widerstand zu leisten, - Vortheile, die der Beachtung des Architekten und der Nachahmung empfohlen werden müssen." (4)
Diese Scheidewände im Dachraum hatten links und rechts Wandöffnungen mit Rundbögen erhalten, mittig war ein hoher Spitzbogen als Durchgang gemauert worden. Dadurch wurde viel Gewicht von den hohen Trennwänden weggenommen. Zugleich konnte man sich auch eine schwere Dachkonstruktion aus Holz sparen, da die Pfetten auf das Mauerwerk aufgelegt werden konnten. Über diese nagelte man "3/4zöllige Latten" und legte darauf Mauerziegel als Bedeckung in eine Mörtellage. Erst darüber wurden "die hohlen Dachziegel" gelegt. Diese Vorgehensweise hielt Regenwasser draußen und schützte vor Feuersbrünsten.
Die Arbeitsräume der Fleischer bildeten im Grundriß ein Rechteck. An der Rückwand befand sich in der einen Ecke ein Ausguß, in den man Brauchwasser abließen lassen konnte, in der anderen Ecke war ein Kamin. Der benachbarte Fleischer hatte immer den Kamin so, daß diese Kamine zusammenlagen, genauso war es bei den Ausgüssen. Diese Installationen bildeten also Paare. An der Rückwand stand auch die Schlachtbank. Nach vorne zu, also zum Säulengang hin, wird verkauft worden sein.
Die Fassadenansicht zeigt uns ein langgestrecktes Gebäude, das aus einer Säulenreihe von 40 Säulen besteht, sowie zwei breiten Eckpilastern. Über diesen verläuft ein Architrav, auf dem die Außenwand eines hohen Attikageschoßes aufgemauert wurde, in dem sich der hohe Speicherraum befindet.
In gewissen Abständen wurden in diese Attikawandfläche Dreiergruppen aus Halbkreisfensternöffnungen eingelassen, die der Belichtung des Speicherraumes dienen. Das Treppenhaus, das in der Mitte des Gebäudes liegt, wurde in der Fassade herausgehoben. Hier erhebt sich ein kubischer Baukörper,mit einem Walmdach darüber, über die breitgelagerte Fassade des Gebäudes. In die Mitte der Wandfläche wurde eine kreisrunde Wandöffnung eingelassen, die vielleicht mit einem Fenster ausgefüllt wurde.
Von diesem hohen Baukörper des Treppenhauses, der in der Mitte der Fassade einen vertikalen Akzent bildet, um zu den horizontalen Linien der übrigen Fassadengliederung ein Gegengewicht zu schaffen, gehen links und rechts über dem Attikaband Stufen eines sehr breit gelagerten Treppengiebels ab.
Die Säulen der Säulenreihe, ebenso die beiden Eckpilaster, stehen auf einem Postament, haben darüber aber keine Säulenbasis, sondern unter dem Gebälk des Architravs nur Kapitelle. Die Zeichnung ist zu ungenau, um die Art dieser Kapitelle zu bestimmen. Vergleicht man die Schnittzeichnungen mit der Ansicht der Hauptfassade, so ergibt sich der Eindruck, als erhebe sich über dem Säulenschaft eine niedrige Trommel geringeren Durchmessers, auf der eine profilierte Scheibe als Endstück des Kapitells aufgelegt wurde.
Die Treppe zwischen den Säulen hat zwei Stufen. Über sie gelangt man auf die Plattform des Säulenganges. Diese bestimmt durch seine langgestreckte Form und die Reihe der Säulen die Architektur dieses klassizistischen Gebäudes.
Auch die Gesimsbänder über dem Architrav, sowie unter und über der Wandfläche des Attikageschoßes erzeugen den Eindruck eines klassizistischen Bauwerkes. In die Wandfläche der Eckpilaster wurden Wappen eingelassen.
Über dem langgestreckten Bauwerk liegt ein flaches Walmdach. Wie die Baukörper der rückwärtigen Gebäudeflügel an dieses Gebäude angeschlossen wurden, ist durch Zeichnungen leider nicht nachvollziehbar gemacht worden.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1)-(4) zitiert aus: o.A.: Der neue Fleischmarkt in Parma. S.94-96 und Zeichnungen auf S.95 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1838. S.94
Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: die Blechfabrik Dida in Paris
In der Biedermeierzeit entstand in Paris eine Blechfabrik. Um einen Innenhof herum wurde ein viergeschossiges Bauwerk in U-Form errichtet. Die Werkstätten waren zum Innenhof hin offen. Der Innenhof selbst wurde über dem letzten Geschoß mit einem Glasdach überdeckt, durch das alle übereinanderliegenden Werkstatträume Licht erhielten. Andererseits hatten die Werkstatträume Fenster zur Strassenseite hin. An ihnen entlang lagen in den Obergeschoßräumen Arbeitstische. Diese gab es auch, der Helligkeit wegen, rund um den vieleckigen Hof. Über dem dritten Obergeschoß lag noch ein Speicher unter dem Dach, das von zwei Seiten zum Hof hin abfiel.
Rückseitig an den Hof angebaut war im Erdgeschoß das Comptoir und Depot der Blechfabrik Dida. Der Fabrikant wohnte in den Geschossen darüber. Von seiner Wohnung aus konnte Herr Dida über eine "von eisernen Konsolen getragene Gallerie" über dem Hof zu seiner Fabrik gelangen. Dieser Gang war um das Rund des Treppenhauses des Wohngebäudes außen über dem Innenhof angebracht. Über Fenster hatte der Fabrikbesitzer zusätzlichen Einblick in die Werkstätten, was ihm die Kontrolle der Arbeitsvorgänge von der Wohnung aus ermöglichte. Der Hof war dadurch rundum geschlossen, aber hell, da von oben Licht einfiel. (1)
An den Seitenwänden der Fabrik gab es auf allen Etagen Essen mit Blasebälgen, wo das Blech vorgewärmt wurde, um es leicht biegen zu können. Im Erdgeschoß standen die Pressen im Halbkreis aufgestellt im überdachten Innenhof. Hier konnte man die Bleche in eine vorgesehene Form prägen. Da eine Wasserleitung in der Biedermeierzeit noch etwas Außergewöhnliches war, ist das Wasserrohr aus Gußeisen im Grundriß der Etagen jeweils vermerkt. Auf jeder Etage gab es zur Wasserentnahme einen Wasserhahn.
"Der Besitzer zahlt für das Wasser, welches er in seiner Fabrik gebraucht, ein jährliches Geldquantum an die Stadt." (2)
Beheizt wurde die Fabrik in der kalten Jahreszeit durch einen Ofen, der im Hof stand:
"Die ganze Werkstätte wird durch einen eisernen Ofen, dessen Rauch in zwei eisernen Blechröhren getheilt heraufgeht, so wie durch die zahlreichen Essen hinreichend erwärmt." (3)
Man kann sich diesen Ofen im Schnitt vergegenwärtigen.
Erwähnt ist im Text von E.Flaminius, der im Jahre 1837 über diese Fabrik berichtet, eine Arbeitsplattform, die sich "auf dem Dache" befunden habe:
"Oben auf dem Dache befindet sich nach der Straße zu, zwischen den Dächern der beiden Seitenflügel, eine Plattform, auf der die Bronzearbeiten und mit Farbe angestrichenen Arbeiten getrocknet werden." (4)
Man kann diese Plattform auf keiner der Zeichnungen entdecken. Es muß sie also zwischen den Dächern der Seitenflügel zur Straße hin gegeben haben. Denkbar ist, daß nur über den seitlichen Gebäudeteilen Pultdächer lagen, wohingegen zur Straße hin ein flaches Dach vorhanden war. Der Schnitt durch das Gebäude ist leider nicht so gelegt, daß wir das erkennen können.
Die Geschoßdecken bestehen aus schweren Holzträgern, die in den Außenwänden, aber auch auf gußeisernen Stützen aufliegen. Über diese Trägerbalken wurden gebogene Eisenteile gehängt, sodaß die Querbalken ein Auflager erhielten, ohne daß komplizierte Holzverbindungen notwendig wurden. Zwischen dem Eisenteil und den Querbalken lag noch ein Auflagerholz, das vermutlich an den Querbalkenenden befestigt worden war. Vorsicht war angebracht bei den Essen. Hier durften keine Holzbalken in der Nähe sein:
"An den beiden Scheidewänden, welche nach der Seite der Nachbarn liegen, und an denen alle Essen sich befinden, liegen die Deckenhölzer nicht unmittelbar neben die- sen Wänden, sondern 2 - 3' von denselben entfernt, und der Raum ist dann mit Töpfen und Gips ausgefüllt, um das Feuer von den Hölzern zu entfernen." (5)
Im Erdgeschoß befand sich ein sehr großer Raum, in dem Maschinen standen, die viel Platz beanspruchten. Hier war eine Sonderlösung für die Decke zu finden, die sehr weit zu spannen war. Man entdeckt diese weitgespannte Decke im Grundriß des Erdgeschoßes, weil in ihm die Lage der Deckenbalken eingezeichnet wurde. Zu einem solchen Darstellungsmittel griff man sonst nur, wenn die Gewölbeform oder der Deckenschmuck zur Darstellung kommen sollte.
Leider ist die Eisenkonstruktion von Flaminius nicht näher erörtert worden, welche über dem letzten Geschoß den Innenhof überdeckt. Er legte mehr Wert darauf, den Betrieb einer solchen Blechfabrik zu erörtern, in der neben Blechen, die vorgewärmt wurden, um sie von Hand bearbeiten zu können, auch kalte Bleche unter Pressen in Form gebracht wurden. Wie solche "moutons", Rammbären, aussahen, ist in einer Zeichnung dargestellt.
In einem Holzbalkengerüst bewegt sich ein eiserner Rammklotz an Führungsschienen auf- und abwärts. Von Hand wird er an einem Seil nach oben gezogen, um ihn auf die Prägeform fallen zu lassen. Er springt nach dem Aufprall zurück, ein Moment, den die Arbeiter nutzen, um ihn, ohne durch sein eigentliches Gewicht belastet zu werden, wieder nach oben zu ziehen. Sobald er über eine bestimmte Höhe gelangt ist, rastet ein Hebel ein, mit dem der nächste Fall des Rammklotzes freigegeben werden kann. Es
"/.../ werden in dieser Fabrik /.../ alle Arten gepreßter Blecharbeiten verfertiget, dahin gehören auch Bilderrahmen, Kaffee- und Theebreter, Ornamente für Gardinen usw." (6)
Aber die Fabrik hatte eine erweiterte Produktionspalette erhalten, weil sich der Fabrikant Dida eine Schraubenpresse mit langen Hebelarmen beschafft hatte:
"Herr Dida hat nämlich ein Brevet, um mittelst Pressen Kasserole, Töpfe und Gefäße mancherlei Art aus Blech anzufertigen, und braucht zu diesem Behufe eine solche stärkere Presse." (7)
Das Bauwerk erregte in der Biedermeierzeit sicherlich aus zwei Gründen die Aufmerksamkeit, einerseits durch seine ungewöhnliche Lage um einen Innenhof und die Produktion auf vier Geschoßebenen, andererseits durch das einfache, aber effektive Schnellbausystem der Holzbalkendecken über den Geschossen.
Leider ist keine Ansicht der Fassade der Fabrik gezeigt, was eine Architekturbetrachtung ermöglicht hätte. Zu vermuten ist, daß solche Werkstätten eher andersherum gebaut wurden, also die Wohnung des Fabrikbesitzers zur Straße, und die Werkstätten um den Hinterhof. Auch dies mag an diesem Bauwerk ungewöhnlich gewesen sein.
Karl-Ludwig Diehl
Anmerkungen:
(1) siehe bei: E.Flaminius: Bemerkungen zu dem Plane und dem Durchschnitt der Fabrik des Hrn.Dida in Paris (Rue vieille du Temple 123), nebst einigen Andeutungen über den Fabriksbetrieb daselbst. S.263-264 und Zeichnungen auf Blatt CXLV in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1837. S.263f.
(2)-(3) zitiert aus: E.Flaminius, wie vor, S.263
(4) zitiert aus: E.Flaminius, wie vor, S.263f.
(5)-(7) zitiert aus: E.Flaminius, wie vor, S.264
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