Mittwoch, 2. Dezember 2009

Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: das Theater in Gent


Da Gent einen Eisenbahnanschluß erhielt, und man sich zusätzliche Theaterbesucher in der Stadt erhoffen konnte, wurde das alte Theater, das 1175 Zuschauer fassen konnte, abgerissen. Ein moderner Neubau, der schon lange gewünscht war, kam zur Bauausführung. Als im Jahre 1838 in der Allgemeinen Bauzeitung in Wien darüber berichtet wurde, befand sich das Gebäude noch in der Bauphase.

"Es sind mit diesem Theater das Postamt, ein Konzertsaal und andere Säle, ein Kaffeehaus und eine Restaurazion vereinigt." (1)

Die Planung dieses multifunktionalen Bauwerkes, von dem jedoch nur der Theaterbereich in Form von Zeichnungen in dem Aufsatz aus der Biedermeierzeit zur Darstellung gebracht wurde, hatte der Architekt Roelandt übernommen. Er leitete auch das Bauvorhaben, dessen Bau durch die Regierung genehmigt werden mußte. Vermutlich schoß der Staat Geld hinzu. Es heißt zu diesem Bauwerk:

"Die Fasade des Theaters, welche sich in einer Länge von 90 Metres in der Theatergasse ausdehnt, ist eine der schönsten, die in den Niederlanden zu finden sind; sie liegt in einer Straße, die so eben beträchtlich erweitert, verschönert und durch den prachtvollen, von dem nämlichen Architekten neu ausgeführten Justizpalast geschmückt wird." (2)

Das Bauwerk scheint neu an alter Stelle errichtet worden zu sein, wenn als Bauplatz die Theaterstraße genannt ist. Diese Straße selbst wurde offensichtlich von demselben Architekten "erweitert, verschönert", und mit einem neuen Justizpalastgebäude aufgewertet. Somit dürfte das neue Theater als Teil einer städtebaulichen Gesamtplanung anzusehen sein, was für ein Projekt spricht, das typisch für die Biedermeierzeit gewesen ist, weil sich die Städte endlich ausdehnen konnten, und sich die Menschen nach gesunder und frischer Luft, sowie Sonne und großzügigem Städtebau sehnten. Man wollten aus den Beengtheiten des mittelalterlichen Städtebaus endlich herauskommen.

Die Beschreibung des Theaterneubaus sollte mit den Zeichnungen verglichen werden.

"Der mittlere Theil des Gebäudes, welcher das Drittel der ganzen Fronte beträgt, hat ein Risalit mit drei großen Thoren in elliptischer Form, die in eine Halle führen, wo die Abfahrenden sowohl, als die Ankommenden auf- und absteigen können. Der ausgebogene Vorsprung ist so gering, daß durch denselben das Trottoir, welches mit Plattsteinen zu belegen angetragen ist, nicht unterbrochen wird, und dennoch bietet das Vestibul noch Raum genug, daß drei Wagen zugleich vorfahren können." (3)

Es wurde also eine Kutschenein- und ausfahrt in eine elliptische Halle in der Mitte des Gebäudes vorgesehen. Dort konnten die Theaterbesucher ihre Kutsche verlassen und der Wagen fuhr wieder aus der Halle durch eines der Tore hinaus. In der Ansichtszeichnung ist dieser Mittelrisalit gut zu erkennen, denn seine Prachtfassade hebt sich deutlich von der langgestreckten Theaterfassade ab.

Leider ist nur ein Grundriß einer Etage veröffentlicht worden, was die Auswertung erschwert. Man muß sich also an den Text halten.

"Die Eingänge liegen ebensöllig mit dem Straßenpflaster und führen in das Parterre, das Parquet, die Logen, das Paradies oder die oberste und letzte Gallerie, zur Bühne und den übrigen Theaterräumen, wodurch bei zahlreichen Versammlungen jeder Unordnung und dem lästigen Gedränge vorgebeugt wird." (4)

Es darf angenommen werden, daß sehr prachtvolle Innenarchitekturen eingebaut wurden, sodaß es ein Vergnügen bereitete, durch diese Vorhallen und über diese Treppenanlagen in den Theaterraum zu gehen.

"Sechs verschiedene Treppen, vom Tageslicht, wie Abends von Gas erleuchtet, unterstützen die Verbindung der Räume." (5)

Da Vorsorge zu treffen war, damit bei Regen Hunderte von Personen problemlos schnell in den Theatervorraum eilen konnten, um sich zu schützen, schuf man dafür Raum. Hier konnten die Theaterbesucher die Wartezeit verbringen, bis der Einlaß in die Theaterräume gewährt wurde. Unweit wurde "eine Restaurazion und ein Kaffeehaus angelegt". Wer prominierte und etwas zu sich nehmen wollte, konnte sich hierhin wenden.

"Im ersten Stockwerke liegt der Wärme- oder Konversazionssaal (Foyer), dessen Geräumigkeit aus der Zeichnung ersichtlich ist, und der große eirunde Saal dient sowohl dem Foyer, als dem Konzert- und Redoutensaale als Vorplatz." (6)

Diese Angaben lassen sich mit der Grundrißzeichnung des Obergeschoßes in Verbindung bringen. In der Mitte des langgestreckten Bauwerkes liegt ein "eirunder" Vorsaal, der sowohl von den Theatergästen als auch den Konzertbesuchern genutzt werden konnte. Der Konzertsaal liegt im Obergeschoß ganz rechts neben dem eirunden Vorsaal. Das große Foyer wiederum liegt links von dem eirunden Saal, ebenfalls im Obergeschoß. Darunter wird sich das erwähnte Kaffeehaus befinden. Der Theatersaal schließt sich rückwärts an dieses Foyer im Obergeschoß an. Über im Halbkreis gebogene Gänge gelangt man vom Foyer aus zu den Logen, sodaß angenommen werden kann, daß über die Vorräume im Erdgeschoß die Sitzreihen im Theatersaal erreichbar gemacht worden waren. Noch weiter rückwärts, im Anschluß an den Zuschauerraum, erhebt sich das Bühnengebäude. Im Vergleich zum alten Gebäude mit seinen 1175 Zuschauerplätzen bietet das neue Gebäude wesentlich mehr Besuchern Platz.

"Außer dem Orchester, Parquet und Parterre wird der Schauplatz vier Reihen Logen enthalten, ferner eine oberste Gallerie (Paradies) für 600 Menschen, auf welche Art das ganze Theater bequem 1800 und bei einiger Unbequemlichkeit auch 2000 Menschen fassen kann." (7)

Da in den Räumlichkeiten auch größere Feierlichkeiten begangen werden sollten, war das Gebäude so konzipiert worden, daß sich die Foyers und andere Säle zusammenschließen liessen.

"Bei größeren Feierlichkeiten werden diese unter sich verbundenen Säle, die nach Gefallen auch mit dem Theatersaale und selbst mit der Bühne erweitert werden können, sämmtlich geöffnet und erleuchtet, wie es zur Ballzeit ebenfalls geschieht; sie geben ohne der Bühne einer Versammlung von beiläufig 6000 Personen hinreichend Raum." (8)

Das sagt nun, die Versammlung so vieler Personen zu sehr großen Anlässen spiegelt den Wunsch wieder, einem möglichst großen Teil der Bewohner der Stadt und sehr vielen Gästen der Stadt einen würdigen Empfang bereiten zu können. Es ist sicherlich nicht unwichtig, genauer zu wissen, aus welchen Gründen solche großen Empfänge abgehalten wurden.

Zu dem Bühnengebäude mit seinen Nebenräumen fanden sich Aussagen im Text. Es wurde in Gent die Größe der Bühnen von Brüssel und Antwerpen angestrebt, was auch verwirklicht wurde. Da der Staat das Projekt genehmigte, werden die Genter sehr stolz auf ihr Theater gewesen sein, da es nun ebenbürdig war.

"An den Seiten der Bühne befinden sich die Ankleidezimmer des Theaterpersonales, und über denselben 32 Garderobenzimmer nebst zwei großen Magazinen für die Dekorazionsstücke. Endlich sind noch zu ebener Erde die Werkstätten der Dekorateurs, Maler, Zimmerleute, und andere kleinere Lokalitäten vorhanden." (9)

Zum Teil lassen sich diese Räumlichkeiten im Obergeschoßplan auffinden. Das meiste ist jedoch nur der biedermeierzeitlichen Beschreibung zu entnehmen. Wichtig ist auch ein Hinweis auf die Heizung, mit der die Theaterräume dann bei kalter Witterung beheizt wurden. Es handelt sich um eine Dampfheizung:

"Die Heizung des Gebäudes geschieht mittelst eines, unter einem festen, gut versicherten Gewölbe angebrachten Dampfapparates, der zugleich mehre, zum Luftwechsel im Theaterraume befindliche Ventile, und nöthigen Falls auch die zur Löschung eines Brandes allenthalben eingerichteten Wasserpumpen in Bewegung setzt." (10)

Die Formulierung, der Dampfapparat sei in einem "festen, gut versicherten Gewölbe" untergebracht, läßt darauf schließen, daß man sich bewußt war, daß diese Technik noch in den Anfängen steckte und durchaus gefährlich sein konnte. Umgekehrt konnte diese Dampfheizung auch dazu genutzt werden, um Wasserpumpen in Bewegung zu versetzen, durch die Wasser zur Löschung von Bränden rasch im Theater zur Verfügung stand. Die Heizungsarten, die in der Biedermeierzeit zur Verfügung standen, sollten unbedingt als Thema genauer bearbeitet werden. Auch der Fortschritt im Brandschutz und in der Bekämpfung von Bränden ist ein lohnendes Thema, weil Ausarbeitungen zulassen, die Entwicklungen im 20.Jahrhundert besser zu verstehen.

Betrachtet man die Hauptfassade des neuen Theaters im Gent der Biedermeierzeit, so hat man einen zweigeschossigen Bau vor sich, der im Erdgeschoß eine Rustikafassade zeigt und darüber ein Obergeschoß mit Türfenstern und Wandöffnungen, die an Palladio und Serlio denken lassen. Die Architektur der Renaissance war also Vorbild für dieses Bauwerk. Eher ungewöhnlich ist der Mittelrisalit, der "eirunde" Säle enthält. Zu ebener Erde konnte man durch Tordurchlässe mit Kutschen einfahren. Oben deutete der Architekt durch hohe Wandöffnungen mit Rundbögen an, daß sich dahinter stattliche Festsäle befinden. Die Rundbögen liegen auf Architraven auf, die unter sich hochrechteckige Wandöffnungen haben. Die Architrave wiederum werden von Säulenpaaren getragen. Darunter liegen im Erdgeschoß die Durchfahrten, die jedoch nicht mit Rundbögen überdeckt wurden, sondern weite horizontale Tragebalken haben. Die Wandöffnungen oben und unten sind zueinander in einen Bezug gesetzt, was die monumentale Wirkung dieser Anordnung noch steigert. Ähnlich wurde der Mittelteil der seitlichen Fassadenabschnitte links und rechts neben dem Mittelrisalit behandelt. Hier liegen zwei große Wandöffnungen übereinander, die obere hat ebenfalls einen Rundbogen über sich. Begleitet werden diese weiten Türfenster von kleineren hochrechteckigen Türfenstern, was zusammen das sogenannte Palladio-Motiv ergibt, das Palladio an der Fassade der Basilika von Vicenza realisierte, und welches von den Architektengenerationen danach sehr bewundert wurde. Vor Palladio hatte bereits Serlio solche Fensterkombinationen angewandt, Palladio hatte sie jedoch meisterhaft weiterentwickelt.

Betrachtet man die horizontale Gliederung der Fassade, so befindet sich unter der Sockelstreifen, der zugleich mit einem Gesimsband abschließt, das bei den Fenstern als Fensterband dienen kann. Darüber liegt das hohe Rustikaband, in das hochrechteckige Tür- und Fensteröffnungen eingelassen sind. Nur im Mittelrisalit und in der Mitte der seitlichen Fassaden befinden sich die anderen Tür- und Fensteröffnungen. Über der Rustikafassade verlaufen Gesimsbänder, welche zum einen die Rustikafassade abschliessen, zum anderen ein Brüstungsband ergeben, das unter den hochrechteckigen Türfenstern der Obergeschoßfassade verläuft. Auch hier ergeben sich die Fensterbänke durch den obersten Teil des Gesimsbandes. Über der glatten Putzfassade des Obergeschoßes verläuft ein Abschlußgesims, über dem sich das Fassadenband hinzieht, in das kreisrunde Fenster eingelassen wurden, die als Oberlicht der Vorsäle und Foyers dienen könnten. Erst darüber verlaufen die Abschlußgesimsstreifen der Fassade insgesamt, und darüber erhebt sich die Attika vor dem langgestreckten Walmdach des Theaters und des Konzertsaales dieses multifunktionalen Gebäudes. Über dem eirunden Bauwerk des Mittelrisaliten erhebt sich ein Dach, das die Form dieses rundigen Saalgebäudes aufnimmt und nach oben strebt, ohne daß die Neigung dieses Daches die Höhe des langgestreckten Walmdaches übersteigt.

Vertikal wurde diese Prachtfassade durch Ecklisenen gegliedert, die als Rustikawandpfeiler ansteigen und dann zu anders gearteten schlankeren Wandpfeilern werden. Bei genauer Betrachtung fällt auf, daß die mittleren Abschnitte der seitlichen Fassaden links und rechts des Mittelrisaliten als Palladio-Motiv ebenfalls etwas vor die übrige Fassadenfläche treten, also ebenfalls Risalite darstellen, an deren Ecken Ecklisenen aufsteigen. Die Fenster und Türen bilden zusammen Dreiergruppen, wenn sie zwischen diesen drei Risaliten oder seitlich davon liegen.

Die gesamte Hauptfassade ist überaus symmetrisch gestaltet worden, was auf einen Klassizismus schließen läßt, der zwar seine Ursprünge in der Antike und in der Renaissance hat, aber zugleich eine biedermeierzeitliche Moderne zum Ausdruck bringen soll. Es dürfte angebracht sein, die Bauwerke, die der Architekt Roelandt zeichnete und ausführte, in einen Vergleich zu bringen, um die Architektur dieser Epoche in Gent und anderswo, wo er gebaut hat, besser zu verstehen. Da der Wert dieser Architektur sicher als hochwertig angesehen wurde, dürften sich viele Archivalien zu den Gebäuden erhalten haben, die durchgearbeitet werden können. Gent erhielt also in der Biedermeierzeit ein sehr eindrucksvolles Theater und gehörte zu dieser Zeit zu den Niederlanden.

Karl-Ludwig Diehl

Anmerkungen:
(1)-(9) zitiert aus: o.A.: Ueber den Plan der neuen Schauburg in Gent. S.21-22 und Zeichnungen auf einem Blatt zur S.22 in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1838. S.21
(10) zitiert aus: o.A., wie vor, S.22

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