Dienstag, 1. Dezember 2009

Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: das Seidenbauhaus in Neuilly


In Neuilly hatte man ein bestehendes Gartenhaus "in dem königlichen Park" umgebaut und in eine "der magnaneries salubres" verwandelt. Man hat also ein "Seidenbauhaus" daraus gemacht. Dazu wird in einem Text aus dem Jahre 1837 formuliert:

"Dieses Gebäude ist, wie erwähnt, als Gartengebäude errichtet worden, und erhielt erst in neuester Zeit seine jetzige Bestimmung, wozu, wie aus dem Grundrisse /.../ hervorgeht, an dem Gebäude zwei Gemächer /.../ angebaut wurden." (1)

Die Erwähnung, man habe auch dieses Gartenhaus zu einem Seidenbauhaus gemacht, ist interessant. Es scheint so zu sein, daß in der Biedermeierzeit der "Seidenbau" erheblich ausgeweitet wurde. Das könnte daran gelegen haben, weil man es endlich verstand, die Seidenbauhäuser besser zu klimatisieren. Seidenraupen reagieren offensichtlich sehr empfindlich auf Temperaturschwankungen und benötigen einen ganz bestimmten Luftzug, um ihr Leben erhalten zu können. Zu den Ventilazionseinrichtungen, die folglich als technische Einbauten sehr wichtig sind, um Seidenfäden produzieren zu können, wurde geschrieben:

"Dieser Gegenstand ist in kältern Klimaten vorzüglich beachtungswerth, weil der Seidenbau dadurch so weit nach dem Norden ausgebreitet werden kann, als der Maulbeerbaum noch fortkommt; und selbst in wärmern Ländern ermangeln die Stuben, worin die Seidenraupen gepflegt werden, oft der gehörigen Ventilazion und gleichmäßigen Temperatur, so daß auch da öfters eine große Sterblichkeit der Seidenraupen eintritt." (2)

Es besteht also einerseits ein Zusammenhang zwischen dem Verbreitungsgebiet von Maulbeerbäumen und andererseits der Tatsache, daß nicht überall da, wo es Maulbeerbäume in der Biedermeierzeit gab, Seidenraupen zum Seidenbau gehalten werden konnten. Man benötigte dazu eine wohlabgewogene Klimatechnologie, welche den Seidenraupen das Überleben garantierte. Diese raumklimatischen Bedingungen herzustellen, war jedoch nicht so einfach, denn es heißt, daß selbst in wärmeren Klimagebieten die Seidenraupenzucht sehr schwierig und riskant ist. In der Biedermeierzeit war man deshalb froh, wenn über die Fortschritte im Bau von Seidenbauhäusern fachlich gut informiert wurde. Um den Stand der Technik, wie er in der Biedermeierzeit erreicht wurde, zu verstehen, lohnt sich die Auswertung der Veröffentlichungen zu diesen Seidenbauhäusern. Allzuviele wird es vermutlich nicht geben können. Bisher begegneten mir zwei Aufsätze, die aber schon eine recht gute Vorstellung von dem ergeben, wie damals für die Seidenraupenzüchter in Europa zu bauen war.

Wenn man sich die Zeichnungen zu den Gebäuden anschaut, entdeckt man einerseits die Seidenbaustube, andererseits die Ventilationsanlagen, die für die Raupenzucht erfunden worden waren. Zugeordnet sind Räume, in denen die Maulbeerbaumblätter getrocknet und die Seidenfäden gesponnen werden konnten. Auch die Erfindungen für die Stellagen, auf denen die Seidenraupen gehalten wurden, sind interessant durchdacht. Man muß die Grundrisse und Schnitte, sowie alle Detailzeichnungen auswerten, um ein solches Seidenbauhaus zu verstehen.

Der Grundriß von dem Gebäude in Neuilly zeigt uns das Parterre von der gesamten Bauanlage. Wir entdecken den Kernbau und die beiden Anbauten. Im Inneren des Kernbaues sind, sehr symmetrisch, Zwischenwände eingebaut, sodaß drei Raumabschnitte entstanden. In einem dieser beiden schmaleren Innenräume wurde ein Treppenhaus abgetrennt. Unter dem angehobenen Erdgeschoß liegt ein Souterrain, in dem die klimatischen Verhältnisse im Seidenbauhaus erzeugt wurden. Man konnte hier heizen und kühlen. Über Luftkanäle wurde die wohltemperierte Luft in die Seidenbauräumlichkeiten geleitet. Man muß, um all diese Anlagen und Einrichtungen zu verstehen, den Text zu den Architekturzeichnungen sehr genau auswerten.

Die Zwischenwände im angehobenen Parterre scheinen aus der früheren Nutzung des Gebäudes als Gartenhaus herzurühren, denn eine der beiden Innenwände ist für die Raupenzucht hinderlich. Man wünschte sie zu entfernen, damit eine einzige große Seidenbaustube entstehen kann. Man hatte also, nach der Umwidmung in ein Seidenbauhaus, mit zwei getrennte Seidenbaustuben die Produktion begonnen:

"Diese sind zwar durch die Mauer /.../ in zwei getheilt, sollen aber, wenn das Gebäude seine jetzige Widmung behält, in eine ununterbrochene Stube umgewandelt werden, da die Zwischenmauer der Ventilazion hinderlich ist." (3)

Ob nachvollziehbar gemacht werden kann, wieso man diese Zwischenwand nicht gleich zu Beginn entfernte, läßt sich so einfach nicht beurteilen. Ob vielleicht noch bestehende Archivalien darüber Aufschluß geben können, kann derzeit nur spekuliert werden. Denkbar ist, daß man den geringeren Raumbedarf eines bestimmten biologischen Abschnittes der Seidenraupen kannte. Denn in einem anderen Seidenbauhaus hatte man eine bewegliche Trennwand in die Seidenbaustube eingebaut, die dem wachsenden Raumbedarf der aufwachsenden Seidenraupen nachfolgte. Durch diese Trennwand ließ sich der Ventilationsaufwand mit beheizter oder gekühlter Luft verringern und genauer an der Notwendigkeit bemessen. Das sparte finanzielle Aufwendungen für Eis zum Kühlen und Heizmaterial zum Wärmen der Seidenbaustube. Hinweise dazu können anderswo bei mir nachgelesen werden. (4)

Die Balkenlage der Geschoßdecken geht, wie dem Querschnitt durch das ehemalige Gartenhaus zu entnehmen ist, in Richtung der langen Erstreckung des Gebäudes. Es könnte also auch sein, daß bei der Umnutzung dieses Altbaus in ein Seidenbauhaus der Ausbau der Zwischenwand deshalb vermieden wurde, weil dann zur Auflage der Balken der Geschoßdecke zwischen Hochparterre und Dachgeschoß ein schwerer Tragbalken in Querrichtung hätte eingebaut werden müssen. Zu vermuten ist also eher diese Einsparung der Kosten für den Einbau des schweren Tragbalkens als Ersatz der Trennwand.

Das Auswerten der Zeichnungen kann viele Probleme bereiten, da wir heute einen anderen Standard bei Bauzeichnungen pflegen. Es fehlen zu diesem Bauwerk verschiedene Grundrisse, und die gegebenen Schnitte zeigen andererseits nicht den Zusammenhang der Anbauten mit dem Kernbau. Der erläuternde Text aus der Biedermeierzeit gibt zwar Hinweise, aber er erhält durch die Reduktion, die mit den Zeichnungen auftritt, ein Gewebe aus Unklarheit, was zum unvollständigen Verstehen des Seidenbauhauses führt. Wenn man jedoch die beiden Seidenbauhäuser der Biedermeierzeit, also das in Villemonble und in Neuilly vergleicht, wächst wieder das Verständnis.

Im Keller des Kernbaus, der von den beiden Anbauten und über ein Treppenhaus im Kernbau erreichbar ist, befinden sich die Vorrichtungen zum Erwärmen oder Abkühlen des Luftstromes, der über Luftkanäle in die Seidenbaustube geleitet wird. Dort hängen die Ablagen für die Seidenraupen an Schnüren, sodaß sie bei der Tagesarbeit der Seidenraupenzüchter auf- und abgelassen werden können. Das erleichtert das Füttern der Seidenraupen mit Maulbeerblättern, usw. Über der Seidenbaustube befinden sich Abluftkanäle, sodaß die wohl temperierte Luft, die in die Seidenbaustube strömt, wieder abgeführt werden kann. Ein Luftverwirbler im Dachgeschoß, der durch die heiße Luft eines Ofens, der im kleinen Heizkeller steht, in Gang gehalten wird, drückt die Luft über das Dach durch einen Abluftkanal nach draußen.

Jenachdem, ob der Luftstrom, der um die Seidenraupen fließen soll, damit sie sich am Leben halten können, zu warm oder zu kalt ist, muß im Keller dafür gesorgt werden, daß die richtige Temperatur der Luft eingehalten wird. Dies geschieht durch Beheizung des Luftstroms, oder durch Abkühlung. Um abzukühlen, läßt man die Luft an kaltem Wasser vorbeigleiten, oder legt sogar Eisbrocken in einen Behälter, der in den Luftstrom gestellt wird. Die Vorrichtungen sind in den Zeichnungen kenntlich gemacht.

Neben der Seidenbaustube, befindet sich ein Magazinraum. Es ist denkbar, daß hier die Maulbeerblätter getrocknet werden und die Seidenfäden von den Kokons abgesponnen werden.

Es lohnt sich, Seidenbauhäuser miteinander zu vergleichen. Es fiel bisher dabei auf, daß solchen Gebäuden in Zeichnungen keine Fassadenansichten beigegeben sind. Dies läßt eine Auswertung nicht zu, die den Baustil herausarbeiten soll. Im Falle dieses Seidenbauhauses in Neuilly fällt dieses Problem nicht so sehr ins Gewicht, weil es sich um die Umnutzung eines Altbaus handelt. Jedoch müßte auch dieser baugeschichtlich erschlossen werden.

Karl-Ludwig Diehl

Anmerkungen:
(1)-(2) zitiert aus: o.A.: Beschreibung des in dem königlichen Park zu Neuilly bestehenden Seidenbauhauses. S.75-76 und Zeichnungen auf Blatt CXII in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1837. S.75
(3) zitiert aus: o.A., wie vor, S.76
(4) siehe bei: Karl-Ludwig Diehl: Auswertung der Aufsätze zu den im 19.Jahrhundert errichteten Bauwerken: ein Gebäude für die Seidenzucht in der Nähe von Paris.

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