Montag, 13. Oktober 2008

Filigrane Eisenträger über Schaufenstern im Paris der Biedermeierzeit














Das Deutsche Gewölbemuseum recherchiert: eiserne Tragröste über den Schaufenstern der Geschäfte im Paris der Biedermeierzeit

In der Biedermeierzeit bestand der sehnlichste Wunsch, genaueren Aufschluß darüber zu gewinnen, wie in anderen Ländern gebaut wurde. Es wurde bemängelt:

"Alle Lehrbücher, die wir bisher über die Detailkonstrukzionen der Gebäude besitzen, beschreiben die Bauart irgend eines Landes oder einer Stadt; nirgends findet man aber eine Zusammenstellung der beachtenswerthen einzelnen Bestandtheile aller Länder, woraus die größere Zweckmäßigkeit der einen in Entgegenhaltung der andern Verbindungsweise, oder ihre gänzliche Verwerflichkeit, dargestellt wäre, obgleich nur solche Vergleiche ein gehöriges Studium der Baukunst begründen können, und vorzüglich der Architekt ohne diese Kenntnis nur lokalen Nutzen stiften, keineswegs aber mit Plänen konkurriren kann, die an fernen Orten, wo von der gebräuchlichen Baukonstrukzion nicht abzuweichen ist, gebraucht werden sollen."
(1)

Der Grund, warum die Redaktion der Allgemeinen Bauzeitung eine genauere Erörterung regionaler Besonderheiten des Bauens in anderen Ländern herbeiführen wollte, lag offensichtlich darin, daß Architekten bei Einsätzen im Ausland für ihre Ausarbeitungen ein besseres Grundlagenwissen benötigten. Andererseits ging es darum, der Fachzeitschrift mit fundierten Berichten über das Baugeschehen im Ausland einen neuen attraktiven Schwerpunkt zu geben, der neue Abonnenten im Deutschen Bund sicherte, aber zugleich sollte auch das Interesse in der Fachwelt anderssprachiger Länder wachgerufen werden, da über die Baukunst ihrer Länder veröffentlicht wurde und das wahrzunehmen war.

Paris hatte 1832 eine schwere Choleraepidemie erlebt und mußte schnellstens Maßnahmen treffen, damit in Zukunft eine solche Epidemie vermieden wird. Aber noch im Jahre 1838 galt Paris als eine "durch ihre ehemals sumpfige Lage und durch Anhäufung von Schmutz in den meisten Straßen" sehr ungesunde Stadt. Neben vielen öffentlichen Bauarbeiten, die zu einem weit verzweigten Netz von Abwasserkanälen und Wasserleitungen für öffentliche Brunnen führen sollten, hatte die Geschäftswelt der Stadt Paris damit begonnen, durch aufwendige Bauten das Aussehen der Straßenzüge ansehnlicher zu machen.

"Die Verschönerung der großen öffentlichen Marktplätze führte auf die Verzierung der einzelnen Kaufläden, welche durch alle Hauptstraßen von Paris sich aneinander reihen und bisweilen mit einer Pracht ausgestattet sind, die in den Pallästen der Großen nicht höher getrieben werden kann."
(2)

Um die Ansehnlichkeit der Kaufläden zu steigern, war man dazu übergegangen, "die ganze Wand" der Erdgeschosse "so viel als nur immer möglich im Lichten zu lassen, um die innere Pracht der Kaufläden, Kaffeehäuser u. nach außen sichtbar zu machen".
(3)

Es erweckt den Anschein, als habe man anfangs "hölzerne Röste", also Holztragwerke, über die großen Wandöffnungen für die Schaufenster gelegt. Daß man sie durch Eisenkonstruktionen ersetzte, könnte am Material Holz selbst gelegen haben:

"Die hölzernen Röste unterliegen gewissen Verhältnissen, die man nie außer Acht lassen darf; zu schwach biegen sie sich, zu stark werden sie durch ihr eigenes Gewicht nachtheilig, und nehmen einen zu großen Raum ein, so daß sie öfters einer angemessenen Dekorazion oder Anordnung im Wege stehen; sie sind übrigens auch der Zerstörung durch Fäulniß wie durch Feuer unterworfen."
(4)

Das Material Eisen biete da bessere Möglichkeiten:
"Durch zweckmäßige Verbindungen und gründliche Berechnung der Theile eiserner Tragröste kann man wirklich eine fast unberechenbare, ja man kann sagen, eine unendliche Summe von Widerstandskräften erhalten; und da sie alle oben erwähnten Nachtheile hölzerner Röste nicht haben, so entsprechen sie auch allen Anforderungen, wenn ihre größern Erzeugungskosten nicht in Anschlag gebracht werden."
(5)

Auf Korrosion durch Feuchtigkeitseinfluß und den Verlust der hohen Tragfähigkeit des Eisens bei Gebäudebränden wurde nicht hingewiesen. Vermutlich bestand noch kaum Erfahrung damit, daß diese Schädigungen Gebäude gefährden konnten, oder man überging das einfach, um den neuen Baustoff im Bauwesen ungestört aufkommen zu lassen, denn er bot in der Tat grosse Vorteile. Dafür werden Beispiele aus Paris genannt:

"Herr Roussel hat einen eisernen Tragrost ausgeführt,
welcher eine Mauer von 20 Metres Höhe trägt, deren
Gewicht auf 66,200 Kilog. (ca.1200 Ztr.) geschätzt
wird."
(6)
(siehe oben: Tragrost von Roussel: Blatt CLXI in der Allgemeinen Bauzeitung)

Ein Blick auf die Zeichnung macht sehr gut deutlich, wie dieses Tragwerk gehalten ist. Es wäre interessant zu wissen, ob es sich über dem Schaufenster des Kaufladens in Paris erhalten hat, und in welchem Zustand es sich heute befindet. Eine Beschreibung existiert. Der Exkurs ist etwas lang, da er aber sehr interessant ist, soll er vollständig zitiert werden. Man beachte die Einzelheiten:

"Dieser Rost ist 6 4/10 Metres lang, an zwei Orten durch je zwei Säulen von Gußeisen unterstützt, und an beiden Ende in Mauern verankert. /.../ Er besteht aus zwei starken, gekuppelten Rösten, wovon jeder eine Rostschließe, drei Rostbögen und eine Tangentenschließe hat. Die Rostschließen sind an ihren Extremen mit einfachen und an den beiden, auf den Pfeilern liegenden Theilen mit doppelten Ansätzen versehen, um den Druck der drei kleinen Rostbögen aufzunehmen. Gerade ober den Pfeilern binden zwei große Bänder den ganzen Rost, der überdieß in der Mitte von jeder der drei Abtheilungen durch starke Bänder zusammengehalten ist. Von Strecke zu Strecke liegen Zwischenbänder, und zwar die einen über die Rost- die anderen über die Tangentenschließen, um das Einbiegen zu verhindern; und drei übers Kreuz gelegte Spangen, die in der Richtung der Schließen angebracht sind, halten die Röste aus einander. Durch die Enden der Tangenten- und Rostschliessen sind senkrechte Bolzen gezogen, welche sie mit den Mauern verbinden. Die leeren Räume in diesem Tragroste sind mit Ziegeln und Gips ausgefüllt, gewöhnlich geschieht dieß aber mit dergleichen Rösten mit hohlen Ziegeln oder vielmehr Töpfen."
(7)

Zunächst ist zu bemerken, daß dieses eiserne Tragwerk als filigrane Konstruktion sowohl an den Enden in den Wänden und dazwischen auf gußeisernen Säulen aufliegt. Außerdem wurde es mit vermörteltem Mauerwerk ausgefüllt. Es ist anzunehmen, daß es auch ummantelt wurde, sodaß es später unsichtbar blieb, was dem Brandschutz sicherlich dienlich war. Diese Konstruktion erlaubte vergrößerte Schaufenster. Leider wird in dem Bericht der Wiener Fachzeitung das Gebäude selbst, in das dieser "eiserne Tragrost" eingebaut wurde, nicht zur Darstellung gebracht, sodaß wir keinen Eindruck von der gesamten Fassade und dem Bauwerk im Straßenbild haben. Auch wird der Ort nicht angegeben, wo dieses Tragwerk zum Einsatz kam. Man wird also nur darauf hoffen können, daß sich anderswo Veröffentlichungen finden. Desweiteren wäre zu überdenken, wo sich die Planungsunterlagen des erwähnten Planverfassers Roussel, der den eisernen Tragrost erfand, erhalten haben könnten. Da er für die Entwicklung des Tragwerkbaus aus Eisen von Bedeutung sein wird, könnte dafür gesorgt sein, daß sich die Archivalien dieses Planungsbüros erhalten haben. Dem wird nachzugehen sein.
Zwei andere Eisentragwerke sind in dem Aufsatz vom Jahre 1837 zusätzlich erwähnt. Zunächst sei der von Leturc angeführt, der eine Wandöffnung von 6 m überspannt:

"Ein anderer Tragrost /.../ wurde durch Herrn Leturc unter der Leitung des Architekten Herrn Callet ausgeführt, und besteht auch aus zwei gekuppelten Rösten, die sich aber dadurch von den vorher beschriebenen unterscheiden, daß jeder nur einen Rostbogen hat, welcher die ganze Länge der Maueröffnung einnimmt. Die Röste sind wie im erst beschriebenen Beispiele zusammengestellt, und durch Kreuze /.../ verbunden. Nur einer der Röste ist an seinen beiden Enden mit Löchern versehen, durch welche Bolzen gezogen werden. Die zwischen den zwei Rösten befindlichen Räume sind mit Töpfen von verschiedener Größe ausgemauert. Dieser Tragrost, mit keinem viel geringern Gewicht als der vorige, vom Herrn Roussel, belastet, ist von bedeutender Kühnheit, denn er ist über eine Oeffnung von 6 Metres gelegt, ohne dazwischen eine Stütze zu haben."
(8)
(siehe oben: Tragrost von Leturc: Blatt CLXI in der Allgemeinen Bauzeitung)

Während von Roussel ein eiserner Tragrost aus drei kleinen Bögen, die von den Auflagern an den Wänden zu zwei mittleren Gußeisenstützen geführt wurden, ausgelegt wurde, wählte Leturc einen eisernen Tragrost mit einem großen Bogen, der über die Spannweite von 6 m reicht. Da dieses Tragwerk als ein eiserner Tragrost "von bedeutender Kühnheit" bezeichnet wird, darf man annehmen, ähnliche Spannweiten waren bis dahin bei Schaufensteröffnungen vermieden worden. Auch dieses eiserne Tragwerk wurde ausgemauert und sicherlich ummantelt.

Das dritte Tragwerk, ein eiserner Tragrost von 5 m Spannweite für eine Wandöffnung im Erdgeschoß, wird deshalb in dem Aufsatz vom Jahre 1837 erwähnt, weil es sehr viel Mauerwerk über sich tragen muß:
"Fig.3 im Auf- und Grundriß stellt ein drittes Beispiel dar. Dieser Tragrost, von Herrn Casset nach Angabe des Herrn Bartaumieux verfertigt, hat sicher viel größeres Tragvermögen, als einer der vorher beschriebenen, ist aber mit einer Mauer von 104,430 Killog. belastet. Er mißt von Auf- zu Auflager 5 Metres, und ist auf gewöhnliche Art konstruirt, wie aus der Zeichnung erhellet."
(9)

(siehe oben: Tragrost von Casset: Blatt CLXI in der Allgemeinen Bauzeitung)

Man darf annehmen, daß auch dieser eiserne Rost von 5 m Spannweite über einer Mauerwerksöffnung im Erdgeschoß eines Kaufladens dazu diente, den Einbau großer Schaufenster zu ermöglichen. Auch dieses eiserne Tragwerk wird man ausgemauert und ummantelt haben. Es dürfte interessant sein, die Begründungen zu lesen, warum diese eisernen Tragwerke verkleidet wurden. Wollte man das Aussehen des Gebäudes durch einen Anblick eines eisernen Tragrostes nicht stören, oder war man sich der Notwendigkeit des Brandschutzes bewußt? Da dazu im Aufsatz von 1837 keine Aussagen gemacht werden, bleibt zunächst nur die Möglichkeit Fragen zu stellen. Eine Klärung der Fragen ergibt sich nur nach Auswertung der Archivalien und aus Vergleichsbeispielen derselben Zeit in Paris, wo man zu solchen Bauvorgängen einen Aufschluß gewann. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß vor allem aus ästhetischen Gründen das eiserne Tragwerk über einem Schaufenster bei einem Geschäftshaus verborgen wurde, denn über mangelnde Feuersicherheit bei Pariser Bauten wird in dem Aufsatz an anderer Stelle (10) sehr geklagt. Nun muß sich das ja nicht auf die wesentlich moderneren Bauten mit großen Schaufenstern beziehen müssen, wenn deren "eiserne Tragröste" feuersicher ummantelt waren. Leider sagt der ausgewertete Text nichts dazu aus.

Karl-Ludwig Diehl


Der Autor ist über folgende Emailadresse erreichbar:
baugeschichte (at) email.de

Anmerkungen:
(1) zitiert aus: o.A.: Eigenthümliche Konstrukzionen
an Gebäuden in Paris. S.311-313; S.321-322; S.334-336;
S.337-341; S.345-347; S.353-360; Abbild. CLXI, CXLXII,
CXLXIII in: Allgemeine Bauzeitung. Wien, 1837. S.311
(2) zitiert aus: o.A.: Ueber einige öffentliche Markthallen
und Boutiquen in Paris. S.25-27; Abbild.CLXXXIV in: All-
gemeine Bauzeitung. Wien, 1838. S.25
(3) siehe genauer in: o.A.: Eigenthümliche Konstrukzionen...,
wie vor, S.321
(4)-(7) zitiert aus: o.A.: Eigenthümliche Konstrukzionen...,
wie vor, S.321
(8) zitiert aus: o.A.: Eigenthümliche Konstrukzionen...,
wie vor, S.321f.
(9) zitiert aus: o.A.: Eigenthümliche Konstrukzionen...,
wie vor, S.322
(10) siehe: o.A.: Eigenthümliche Konstrukzionen...,
wie vor, S.311

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