Donnerstag, 17. Juni 2010

Romantik und Neugotik: ein Zusammenhang

Aus den romantischen Anfängen der Neugotik im 18.Jahrhundert wurde im Verlauf der Jahrzehnte des 19.Jahrhunderts eine aufgeklärte Baubewegung der Moderne dieser Zeit, die Rathausbauten und andere Profangebäude für die neuen angewachsenen Erfordernisse in den Städten und im ländlichen Raum schuf.

Diese Baubewegung trug dazu bei, demokratische Verhältnisse entstehen zu lassen, mußte sich aber im deutschen Kulturraum des Feudalwesens bedienen, um die kleinteiligen deutschen Herrschaftsräume zu vereinen. Dies geschah durch das aufgeklärte Preußen, wo sich ein gut Teil der Fortschrittskräfte an der Universität und in der Verwaltung tummelte. Die romantischen Anfänge liessen jedoch das gesamte darauf folgende Geschehen noch nicht erkennen. Dazu schrieb Hermann Schmitz im Jahre 1921:

"Die tiefgreifende Umwälzung im architektonischen Empfinden, d.h. seine Unterordnung unter Momente geistig-seelischer Art, hängt zusammen mit der Umwandlung auf dem Gebiete des Denkens und Fühlens überhaupt mit der welthistorischen Erscheinung, die in der Literatur als Romantik bezeichnet wird" (1).

Julius Fekete weist darauf hin, daß die Romantik eine Gegenbewegung gewesen ist gegen den rationalistischen und utilitaristischen Geist, der im 18.Jahrhundert verbreitet gewesen sein soll. Es wird also darum gegangen sein, die durch die Vernunft gefesselten Kräfte einer Epoche freizusetzen und der schöpferischen Phantasie freien Lauf zu lassen.

Romantik und Gotik lassen sich jedoch nicht gleichsetzen, sondern zu den romantischen Bewegungen gehört u.a. die der Neugotiker, die spezielle Ideen an die Bevölkerung herantrugen.

Immanuel Kant hatte bereits im Jahre 1781 "die Objektivität der Erkenntnis", diese der Vernunft ganz alleine zugeschriebene Fähigkeit, nicht mehr länger akzeptiert. Rationales Denken hänge von apriorischen Kategorien ab, folglich könne Natur nicht als objektive Wahrheit, sondern nur als Erscheinung erkannt werden.

Der Kunst als Erkenntnisweg wuchs nun eine neue Rolle zu, da in ihr die Natur ganz rein waltet.

Fekete erwähnt weiterhin:

"Schelling übernahm von Kant die Ablehnung des Verstandes und der Vernunft als Legitimationen des künstlerischen Gegenstandes" (2).

Schelling habe sich "von der Vernunftgläubigkeit der Aufklärung" und genauso "von der Forderung der Nachahmung der Natur" gelöst, wie es als Idee von der hellenistischen Antike bis in diese Zeit tradiert worden ist. Daraus resultierte:

"Nach Schelling steht der Künstler über dem Denker, da sein Werk das Sinnliche vergeistigt, das Geistige versinnlicht und damit den Schöpfungen "der Weltseele" am nächsten kommt." (3)

Natur ist bei Schelling "sichtbarer Geist" und Geist "unsichtbare Natur". Das gab viel Raum zum neuen Denken und schuf Kreativität. Im Künstler und in der Kunst liegt dann eine Kraft, die Natur als "idealische Schönheit" abzubilden und dem Genie, oder Künstler, wächst dann eine subjektive Fähigkeit zu neuer Kunst zu. Diese kann sich rückwärtsgewandt oder fortschrittlich entfalten. Auf jeden Fall schafft sie ein neues Raumdenken.

Bester Ausdruck der Romantik sind die englischen Landschaftsparks, die wie ideale Szenen gemäß der romantischen Landschaftsmalerei gestaltet wurden. In solchen Parks wurden künstliche "gotische" Ruinen eingestreut, die sowohl schaudern lassen sollten, um auf das Vergängliche in der Natur zu zeigen, aber sie sollten auch Landschaftsräume romantisch verklären, da sie Kulissenzauber darstellten, dem man ausgesetzt werden sollte.

Diese Architekturmode der frühen und romantischen Neugotik fand bald Anhänger im deutschen Kulturraum.

Erst als die Altertumswisenschaft eine akribische Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Gotik anfing, reflektierte man die Neugotik ganz anders. Es ging zu dieser Zeit darum, an die Fähigkeiten anzuknüpfen, über die die gotischen Baumeister verfügt hatten. Das drängte in Deutschland zum Weiterbau des Kölner Doms, der im Mittelalter begonnen worden war und dessen Baustelle danach lange Jahre nicht mehr betrieben wurde. Es kam zur Zeit der Neugotik zu vielen hochwertigen Profan- und Sakralbauten.

Zu den führenden Architekturtheoretikern der wissenschaftlichen und demokratischen Phase der Neugotik gehörte Reichensperger. Er war von Hause aus Jurist, hatte sich aber durch Studien Kenntnisse erworben, die es ihm erlaubten, neugotische Ideen voranzutreiben. Auch er war zunächst romantisch bewegt und zugleich von dem Ideengut der Aufklärung, das mit der französischen Revolution aufgekommen war, erfaßt gewesen, das ein neues Staatswesen hervorbringen sollte. Er kämpfte für einen preußischen Zentralstaat, der die kleinteiligen deutschen Herrschaftsräume zusammenfaßt.

In den 1830er Jahren war dieses widersprüchliche Denken, einerseits romantisch bewegt zu sein, und andererseits vom aufklärerischen Geist vorangetrieben zu werden, üblich und noch miteinander vereinbar. (4) Später trennte sich das Romantische ab.

Im Architekturgeschehen macht sich dieser Vorgang im Aufkommen der hochstehenden Neugotik sehr deutlich bemerkbar. Die Bauwerke, die dann entstanden, gehören zum wertvollsten Kulturgut vieler Städte und geniessen Bewunderung. Viele von ihnen sind städtische Wahrzeichen geworden. Man kann sagen: Zu dieser Zeit war bereits überwunden, was früher von der Gotik gedacht worden war. Alfred Kamphausen schreibt in seinem Büchlein "Gotik ohne Gott" (1952):

"Gotik war für Vasari ungebändigt wuchernde, unförmige Kunst, dem dunkeln, noch vom Urwald bedrängten Norden eigen." (5)

Die mit der Renaissance aufgekommene dunkle Sicht auf die Gotik hatte sich erst nach und nach, und eigentlich erst mit dem Ende der Zeit der Romantik, aufgelöst. Dazu beigetragen hatte auch der Goethe der Sturm und Drang-Zeit, der bei einem Besuch Straßburgs von der Außenwirkung des Straßburger Münsters im Stadtraum so angetan war, daß er begeistert darüber schrieb. Gotik geriet bald in große Wertschätzung und löste eine qualitativ hochwertige Neugotik auch in Deutschland aus. Engländer und Deutsche waren so stolz auf sie, daß sie meinten, die Gotik sei bei ihnen entstanden. Nur die Franzosen konnten es schließlich zurecht behaupten. Aber dazu mußte erst einmal gewußt werden, wo die Gotik entstanden war und was sie ausmacht. Dies war durchaus strittig.

Das akribisch erarbeitete Wissen zur Gotik wurde in den relevanten beruflichen Kreisen der verschiedenen Nationalstaaten durchaus zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten akzeptiert. In Deutschland geschah dies sehr spät, erst dann, als herausgefunden wurde, daß der älteste Teil des Kölner Doms auf einer Planung beruhte, die direkt von den Planrissen der Kathedrale von Amiens übernommen worden war. In einem Text von Michael J.Lewis, der 1993 herausgegeben wurde, finden sich dazu hervorragende Hinweise.

Neugotik war über Jahrzehnte zu bauen, da Gotikbegeisterung zum Ausdruck der Moderne des 19.Jahrhunderts gehörte. Daneben entwickelten sich andere Bauströmungen, die genauso interessant sind. Von den Bauhütten der mittelalterlichen Gotik schwärmte man noch am Bauhaus in Weimar und Dessau und anderswo. So kam es, daß sich das Gotische auch noch im 20.Jahrhundert deutlich bemerkbar machte.

Karl-Ludwig Diehl


Anmerkungen:
(1)zit.aus H.Schmitz: Die Gotik im deutschen Kunst- und Geistesleben. Berlin, 1921. S.172, oder bei: Julius Fekete: Denkmalpflege und Neugotik im 19.Jahrhundert. München, 1981. S.1
(2)-(3) zit.aus Julius Fekete, wie vor, S.5
(4) siehe genauer bei: Michael J.Lewis: The politics of the German Gothic Revival. August Reichensperger. Bosten, etc., 1993. S.7ff.
(5) zit.aus Alfred Kamphausen: Gotik ohne Gott (1952), S.17